Roman
einen misstrauischen Blick zu. »Darüber will ich heute Abend eigentlich nicht reden.«
Shane zieht den Eisbecher wieder zurück auf seine Seite und aus meiner Reichweite. Er greift sich den Löffel. »Für jede positive Erinnerung, von der du mir erzählst, bekommst du einen Löffel Eiscreme.«
»Aber es schmilzt doch!«
»Dann solltest du dich wohl beeilen.«
»Ankündigungszettel verteilen.«
Shane zögert, will mir den Löffel nicht geben. »Erklär es mir.«
»In den Kleinstädten war es meine Aufgabe, an den Straßenecken zu stehen oder von einem Laden zum nächsten zu gehen und den Leuten von dem Wiedererweckungsgottesdienst zu erzählen. Manchmal bekam ich von den Ladenbesitzern etwas geschenkt: Süßigkeiten, eine Blume, eine Tüte Chips. Weil ich so niedlich und fromm war.«
»Okay.« Shane füttert mich mit dem ersten Löffel Eis. Banane, Schoko-Nuss-Eis und Schlagsahne finden den Weg in meinen Mund. »Und weiter?«
»Die ausgelassene Stimmung. Wie auf einem Rummelplatz.«
»Okay, gut. Du bekommst einen Löffel für jede Einzelheit, die dazugehört.«
»Die Ausrufer, die die Bibeln, Tambourins und Gebetbücher verkauften.« Dieses Mal ist Minzschokolade auf dem Löffel. »Wie die Aufbauhelfer und die einheimischen Hilfskräfte zusammenarbeiteten, um das große Zelt aufzubauen.« Auf diesem Löffel gibt es von jeder Eissorte ein bisschen. Langsam kapiert Shane, wie man so einen Banana Split isst. »Die Leute aus der Stadt, die Stände aufbauen, wo sie Limonade, eigenproduziertes Kunsthandwerk und Spritzkuchen verkaufen.«
»Oh, an Spritzkuchen erinnere ich mich.« Er öffnet den Mund und leckt sich über die Lippen. Bei der Erinnerung ist ihm offenkundig das Wasser im Mund zusammengelaufen. »Tu das auf die Liste der Dinge, die essen und schmecken zu können ich echt vermisse. Gut, mach weiter! Was noch?«
»Die Bekenntnisse.«
»Was meinst du damit?«
»Wenn die Menschen aufstanden und vor allen sagten, wie sie geheilt worden waren oder dass sie sündig gelebt hätten, bis ihnen die Gnade Gottes zuteil geworden war.« Ich bekomme den nächsten Löffel. »Einige Bekenner waren natürlich Anreißer oder besser gesagt Lockvögel, doch es gab auch echte Gläubige.«
»Lockvögel? Wie das?«
»Sie arbeiten mit dem Trickbetrüger zusammen. Sie übernehmen die Rolle der angeblich unbeteiligten Dritten, der Zuschauer. Beim Hütchenspiel, wie es auf den Straßen durchgezogen wird, wäre der Lockvogel der Typ, den du gewinnen siehst. Er soll dich, das Opfer, in Sicherheit wiegen. Der Herdentrieb. Bekomme ich einen Extralöffel für meine Lektion in Trickbetrug?«
Shane seufzt und gibt mir noch einen Löffel. »Nur wegen meiner unsterblichen Liebe zu dir«, brummt er.
»Wie bitte?«
Er schaut auf. »Wie?«
»Wegen deiner un-was?«
»Häh?«
Mit Augen, schmal wie Schlitze, blicke ich ihn an. »Was hast du gerade eben gesagt?«
»Wann eben?« Er hält mir den Löffel hin. »Mach schon, es tropft.«
Ich nehme sein Angebot an. Aber mir wird heiß und kalt dabei. Ich spule meine Erinnerungen noch einmal bis zu seiner Bemerkung zurück, nichts könne mich überraschen.
»Was sonst noch?« Shane bohrt mit dem Löffel in dem Eis herum. »Hier ist immer noch ein halber Banana Split, der gegessen werden will.«
Rasch reiße ich mich zusammen. »Ich erinnere mich an …« Tja, an was? Münzgeld stapeln, rollen und zählen, die ganze Nacht hindurch? Die Leichtgläubigen, hinters Licht Geführten dabei beobachten, wie sie in ihre baufälligen, heruntergekommenen Häuser zurückkehrten, ohne einen einzigen Cent in der Tasche? »An die Hoffnung in den Augen der Menschen.«
»Klingt nach was Großem. Erzähl mir mehr.«
»Normalerweise kamen die Menschen vom Leben gebeutelt in die Erweckungszelte, geschlagen mit schlechten Ernten oder ohne Arbeit, weil man ihre Fabrik geschlossen hatte. Aber sie brauchten nur ein paar Stunden meinen Eltern beim Singen und Predigen zuhören und zusehen, wie ihre Sitznachbarn auf der Bühne geheilt wurden. Dann gingen sie in dem Glauben nach Hause, einfach alles sei möglich.«
Shane füttert mich mit Eis. »Deine Alten, die waren schon welche, oder?«
»Mein Vater war der Beste in der Branche. Charmant, überzeugend, gut aussehend. Er hat es wie ein Magier gemacht, immer mit Ablenkung und Illusionen gearbeitet. Aber ohne meine Mom hätte er nichts erreicht. Sie waren wie Fred Astaire und Ginger Rogers. Zwei Hälften ein und derselben Person.«
Als der nächste Löffel
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