Roman
Seite der Straße. Deshalb hat er also so wenig getrunken! Panik erfüllt meine Brust.
»Oh nein! Eh, eh.« Ich schüttele den Kopf. »Ich fahre nicht mit Motorrädern. Tut mir leid. Ich bin mal 1992 auf einem mitgefahren. Der Typ war geisteskrank. Er war total lebensmüde. Wir sind ungefähr eine Million Stundenkilometer schnell gefahren, und ich schwöre, dass mein Leben wie ein Film vor meinen Augen ablief. Ich dachte: Das war’s, vorbei, finito . Ich habe mich im Kopf von allen verabschiedet, die ich liebe, und darüber nachgedacht, wer wohl zu meiner Beerdigung kommt. Ich bin von diesem Motorrad abgestiegen und war leichenblass, leichenblass, Wayne, und ich …« Plötzlich halte ich inne. Er lacht mich aus, hält sich sogar den Bauch vor Lachen.
»Was?«, frage ich.
»Nichts, es ist nur …« Er fängt sich wieder. »Das war vor siebzehn Jahren. Vielleicht wird es ja Zeit, der Sache noch mal eine Chance zu geben?«
»Halt dich einfach an mir fest oder an den Seiten, und folge den Bewegungen des Motorrads, okay?«
»Okay.«
Wir sitzen auf dem Motorrad. Ich kann es nicht glauben, dass er mich dazu gebracht hat aufzusteigen. Den Helm aufzusetzen war peinlich genug, weil er an meinen Ohren hängen blieb. Und dann lässt er den Motor an und jagt ihn so hoch, dass ich hinter meinem Visier hilflos quieke, ein gedämpftes, verzweifeltes Quieken, als würde ich angegriffen. War das hier das peinlichste erste Date aller Zeiten?
Und dann, dann … Es ist unglaublich. Ich weiß nicht, was während der nächsten halben Stunde passiert, aber ich bin auf einem Motorrad, und ich habe das Gefühl zu fliegen.
Wir rasen durch Aldwych, vorbei an Bussen mit Damen mittleren Alters, die sich die Theateraufführung von Grumpy Old Women ansehen wollen, und da kommen wir, denke ich. Ich fühle mich leicht und berauscht, so, als wäre ich in einem französischen Film.
Wir schlängeln uns über den Strand, umrunden Busse. Irgendwann spüre ich sogar, wie die Hitze eines roten Busses meine Beine streift, und spanne jeden Muskel in meinem Körper an, schreie in einer Mischung aus Entzücken und Angst.
Wayne dreht immer wieder den Kopf und ruft mir etwas zu, aber ich kann ihn wegen den dahinkriechenden, hupenden Autos nicht verstehen. Die Luft riecht nach verbranntem Zucker. Ich verstärke meinen Griff. Erst als wir auf die Waterloo Bridge biegen, wird mir klar, was er mir die ganze Zeit zu sagen versucht.
»Du hältst dich mit den Händen an meinem Hals fest!«
»Tut mir leid. Ich kann nicht anders!«, rufe ich zurück.
»Halt dich an den …«
»Was?«
»Halt dich an den Seiten fest!«
»Aber das kann ich nicht!«
»Das musst du. Du erwürgst mich sonst!«
Also lockere ich meinen Griff langsam und zögernd – hier, seht, was ich mich traue! –, und mit aller Furchtlosigkeit, die ich aufbringen kann, mit dem letzten Rest Mut, den ich noch habe, löse ich meine zitternden Hände von seinem Hals und lege sie um seine Hüfte. Es fühlt sich erschreckend und aufregend an. Es fühlt sich an, als wäre ich gerade aus einem Flugzeug gesprungen – nur ohne Fallschirm. Wie zum Teufel kann ich auf diesem Ding sitzen bleiben? Aber wow! Jetzt verstehe ich es. Wir fliegen über die Waterloo Bridge, und ich schaffe es. Ich folge den Bewegungen des Motorrads! Es erinnert mich an den eintägigen Schnupper-Tauchkurs, den ich mal gemacht habe. Es war das Schönste, was ich jemals gesehen habe, als ich mich entspannte und die ständige Todesangst mal für eine Sekunde ausblenden konnte.
Und auch das hier ist wunderschön. Diese Stadt, in der ich lebe und die sich um uns herum erstreckt, ist so wunderschön. Boote gleiten unter uns entlang, so winzig, während sie sich durch die breiten Massen des Flusses kämpfen, der in der untergehenden Sonne golden glitzert. Der Fluss macht eine Linkskurve, Lichter erhellen das Victoria Embankment, ein Neonschild über der glatten Fassade des National Theatres: » AFTER THE DANCE . Heute Aufführung«.
Unter uns scheint sich alles langsam und elegant zu entfalten, während hier oben – wenn ich es nur wagen würde, meine Augen für eine Sekunde zu öffnen – die Stadt in Lichtgeschwindigkeit an mir vorbeifliegt.
Ich kann die Wärme von Waynes Körper unter meinen Fingern spüren, das Vibrieren des Motors an meinen Schenkeln. Hin und wieder treffen sich unsere Blicke im Rückspiegel. Er grinst mich an.
Dann fahren wir über die York Road, und das London Eye erscheint vor uns wie ein Dreirad, das
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