Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Vernunft, für ein beispielhaftes Verhalten und würdiges Auftreten vor den Behörden aussprachen – und all diese Argumente und Gegenargumente, aber auch zahlreiche weitere Neuigkeiten, Informationen und Hinweise wurden auf dem Hof ringsum unablässig diskutiert, in kleineren oder größeren Gruppen, die sich fortwährend auflösten und dann wieder von neuem bildeten. Ich hörte, dass unter anderem sogar Gott erwähnt wurde, «Sein unergründlicher Ratschluss» – wie es einer von ihnen formulierte. Wie einst Onkel Lajos, so sprach auch er von Schicksal, vom Schicksal der Juden, und er war, gleicherweise wie Onkel Lajos, der Ansicht, wir seien «vom Herrn abgefallen», und das sei die Erklärung für die Heimsuchungen, die uns ereilten. Er hat dann doch ein wenig meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, denn er war ein kraftvoll auftretender und auch körperlich so beschaffener Mann, mit einem ziemlich ungewöhnlichen Gesicht, das von einer schmalen, aber weit ausholend gebogenen Nase geprägt wurde, sehr glänzenden, feucht blickenden Augen, einem schönen, grau durchzogenen Schnurrbart und einem damit zusammengewachsenen kurzen runden Kinnbart. Ich sah, dass immer viele um ihn herumstanden und gespannt seinen Worten lauschten. Erst später habe ich erfahren, dass er Geistlicher war, denn ich hörte, wie man ihn mit «Herr Rabbi» anredete. Ich habe mir auch ein paar seiner besonderen Worte oder Ausdrücke gemerkt, so zum Beispiel die Stelle, wo er zugab – «denn das Auge, das sieht, und das Herz, das fühlt» gäben ihm Anlass zu diesem Zugeständnis –, dass «wir hienieden das Maß der Strafe vielleicht in Frage stellen mögen» – und seine sonst klare, tragende Stimme versagte ihm hier für einen Augenblick, während seine Augen noch feuchter wurden als sonst. Ich weiß nicht, warum ich da das merkwürdige Gefühl hatte, er habe ursprünglich eigentlich etwas anderes sagen wollen und seine Worte hätten ihn selbst ein bisschen überrascht. Doch er fuhr dann fort und gestand, «er wolle sich über nichts hinwegtäuschen». Er wisse schon, er müsse sich «an diesem Ort der Pein und unter diesen gequälten Gesichtern» ja nur umschauen – wie er sagte, und ich war von seinem Mitleid etwas überrascht, denn schließlich war er selber ja auch hier –, um zu sehen, wie schwer seine Aufgabe sei. Doch sein Ziel sei es nicht, «Seelen zu gewinnen für den Allmächtigen», denn das sei nicht nötig, da ja unser aller Seelen Ihm entspringen, wie er sagte. Dabei rief er uns aber auf: «Hadert nicht mit dem Herrn!», und zwar gar nicht einmal nur deshalb, weil das eine Sünde wäre, sondern weil dieser Weg «zur Verneinung des hohen Sinns des Lebens» führen würde und wir seiner Meinung nach «mit dieser Verneinung im Herzen» nicht leben könnten. Ein solches Herz möge wohl leicht sein, aber nur, weil es leer sei, gleich der Ödnis der Wüste, sagte er; schwer sei es hingegen und doch der einzige Weg der Tröstung, auch in den Heimsuchungen die unendliche Weisheit des Allmächtigen zu erkennen, denn, wie er wörtlich fortfuhr: «Die Stunde Seines Sieges wird kommen, und sie werden eins sein in Reue, und aus dem Staub werden sie Ihn anrufen, die Seine Herrschaft vergessen haben.» Und wenn er also jetzt schon sage, dass wir an das Kommen Seines künftigen Erbarmens glauben müssen («und dieser Glaube möge in dieser Stunde der Prüfung unsere Stütze und der unerschöpfliche Quell unserer Kraft sein»), so habe er damit auch schon die einzige Art und Weise bezeichnet, wie wir überhaupt leben könnten. Und diese Art und Weise nannte er die «Verneinung der Verneinung», da wir ohne Hoffnung «verloren» seien – während wir Hoffnung einzig aus dem Glauben schöpfen könnten und aus dem unverbrüchlichen Vertrauen, dass sich der Herr unser erbarmen werde und wir Seiner Gnade zuteil würden. Seine Beweisführung, ich musste es zugeben, schien klar, wobei mir doch auffiel, dass er alles in allem nicht sagte, wie wir da eigentlich etwas Konkreteres tun könnten, und er war auch nicht recht imstande, denen mit einem guten Rat zu dienen, die ihn um seine Meinung angingen: ob sie sich jetzt schon für die Reise melden oder lieber noch dableiben sollten. Auch den Pechvogel habe ich da gesehen, und zwar gleich mehrere Male: Einmal tauchte er bei der einen Gruppe auf, dann bei der anderen. Ich habe aber bemerkt, dass er unterdessen seine winzigen, noch ein wenig blutunterlaufenen Augen immerzu unruhig und unermüdlich
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