Roman eines Schicksallosen (German Edition)
mit einigen recht hochliegenden, sorgsam mit stachligem Draht überzogenen, fensterartigen Öffnungen zu beiden Seiten. Bald ist in unserem Wagen dann die Frage des Wassers und damit auch die der Reisedauer aufgeworfen worden. Im Übrigen kann ich von der Reise insgesamt nicht viel sagen. Genauso wie im Zollhaus oder zuletzt in der Ziegelei mussten wir uns auch in der Eisenbahn die Zeit irgendwie vertreiben. Das war hier vielleicht doch so viel schwieriger, als sich aus den Umständen ergab, natürlich. Andererseits half das Wissen um das Ziel, der Gedanke, dass alles, eine jede, wenn auch mit noch so viel ermüdendem Gerumpel, Rangieren und Stillstand zurückgelegte Wegstrecke uns ihm näher brachte, über die Probleme und Schwierigkeiten hinweg. Die Jungen und ich verloren die Geduld nicht. «Rosi» redete uns immer wieder zu: Die Fahrt dauere nur so lange, bis wir angekommen wären. Der «Halbseidene» wurde viel geneckt wegen eines Mädchens, das – wie die Jungen zu wissen meinten – mit den Eltern hier war und das er noch in der Ziegelei kennengelernt hatte; ihr zuliebe verschwand er, besonders am Anfang, häufig im Inneren des Waggons, was unter den Jungen viel zu reden gab. Und auch der Dauerraucher war da: Sogar hier noch kam aus seinen Taschen ab und zu irgendetwas Krümeliges, Seltsames, Zusammengeklaubtes zum Vorschein, irgendwelche Papierfetzen und das eine oder andere Streichholz, über dessen Flamme sich sein Gesicht mit der Gier eines Raubvogels beugte, manchmal sogar nachts. Von Moskovics (von dessen Stirn sich unablässig Bäche über die Brille, die stumpfe Nase, den wulstigen Mund ergossen, Bäche aus Schweiß und Ruß – wie übrigens bei allen von uns, auch bei mir, selbstverständlich) und von all den anderen hörte ich auch noch am dritten Tag hin und wieder ein fröhliches Wort, eine lustige Bemerkung, vom «Zierlederer» ab und zu, wenn auch mit stockender Zunge vorgebracht, einen matten Scherz. Ich weiß nicht, wie es einige Erwachsene fertiggebracht hatten, auszutüfteln, dass das Ziel unserer Reise ein Ort war, der sich «Waldsee» nannte: Wenn ich Durst hatte, wenn mir heiß war, verschaffte allein schon das Versprechen, das in diesem Namen lag, sofortige Erleichterung. Die, die sich über den Platzmangel beklagten, wurden, zu Recht, von vielen anderen erinnert: Sie sollten daran denken, die Nächsten würden schon zu achtzig sein. Und wenn ich es mir im Grunde recht überlegte, so hatte ich ja schließlich schon engere Verhältnisse erlebt: so etwa im Pferdestall der Gendarmerie, wo wir das Platzproblem nur durch die Übereinkunft hatten lösen können, dass wir uns alle auf den Boden kauerten, nach dem Muster des «Türkensitzes». In der Eisenbahn saß ich viel bequemer. Und wenn mir danach zumute war, konnte ich auch aufstehen, ja sogar ein paar Schritte machen – zum Beispiel zum Kübel: Der hatte nämlich seinen Platz in der rechten hinteren Ecke des Waggons. Zunächst hatten wir den Beschluss gefasst, ihn nach Möglichkeit nur für das kleine Geschäft zu benutzen. Doch nun, mit der Zeit, mussten eben viele von uns die Erfahrung machen, dass das Gebot der Natur stärker war als unser Gelöbnis, und es blieb uns nichts übrig, als demgemäß zu handeln, wie etwa wir Jungen das taten und die Männer, ja und dann auch etliche Frauen, das lässt sich ja verstehen, natürlich.
Auch der Gendarm hat schließlich keine größeren Unannehmlichkeiten bereitet. Zuerst war ich über ihn etwas erschrocken: Sein Gesicht ist ganz plötzlich gerade über meinem Kopf, in der linken Fensteröffnung aufgetaucht, und er hat auch noch mit der Taschenlampe zu uns hereingeleuchtet, am Abend, oder eher schon in der Nacht, nach dem ersten Tag, während eines erneuten längeren Halts. Aber wie sich bald herausstellte, kam er in guter Absicht: «Leute», nur diese Mitteilung wollte er machen, «ihr seid an der ungarischen Grenze angelangt!» Bei dieser Gelegenheit wolle er einen Aufruf, man könnte fast sagen, eine Bitte an uns richten. Sein Wunsch war, dass, sollten bei irgendjemandem von uns noch Geld oder sonstige Wertsachen verblieben sein, wir ihm diese aushändigten. «Da, wo ihr hingeht», meinte er, «werdet ihr keine Wertsachen mehr brauchen.» Und was wir noch bei uns hätten, das würden uns die Deutschen sowieso alles abnehmen, versicherte er. «Warum sollte es dann», so fuhr er dort oben in der Fensteröffnung fort, «nicht lieber in ungarische Hände gelangen?» Und nach einer kurzen
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