Roman eines Schicksallosen (German Edition)
doch eher so, dass jedenfalls auch ich diese Möglichkeit als einigermaßen unwahrscheinlich empfand.
Als er dann gegangen ist, sah ich auf einmal – hopp! – den Pechvogel aus der Gruppe schnellen, wie den Teufel aus der Kiste, und dem Experten nach, genauer: vor ihn hin eilen. Ich dachte mir noch, in Anbetracht der Aufregung und auch einer gewissen Entschlossenheit auf seinem Gesicht: Na, diesmal wird er ihn ansprechen, nicht so wie im Zollhaus. Dann aber ist er in der Eile in einen beleibten, ellenlangen Mann mit Armbinde hineingestolpert, der mit Liste und Bleistift daherkam. Der hielt ihn auch gleich auf, trat zurück, musterte ihn von Kopf bis Fuß, beugte sich vor und fragte ihn etwas – und was dann geschehen ist, weiß ich nicht, da «Rosi» gerade herüberrief, dass wir an der Reihe seien.
Dann erinnere ich mich nur noch daran, wie ich mit den Jungen wieder zurückgegangen bin, zu unserer Unterkunft, und dass die Sommerdämmerung, die den Himmel über den Hügeln schon rötlich färbte, besonders friedlich und warm war an diesem letzten Tag. Auf der anderen Seite, in Flussrichtung, sah ich über dem Rand des Lattenzauns gerade die Wagendächer des grünen Vorortzuges fahrplanmäßig vorübereilen. Ich war müde und, na ja, nachdem ich nun angemeldet war, natürlich auch ein bisschen neugierig. Die Jungen schienen im Großen und Ganzen auch zufrieden. Und auch der Pechvogel ist irgendwie bei uns aufgetaucht und hat mit einem insgesamt feierlichen, freilich irgendwie forschenden Gesichtsausdruck gesagt, auch er sei schon auf der Liste. Wir hießen es gut, und wie mir schien, befriedigte ihn das – dann aber habe ich ihm nicht mehr recht zugehört. Hier, im hinteren Bereich der Ziegelei, war es ruhiger. Ich sah zwar auch hier kleinere Gruppen von Leuten, die beratschlagten, einige bereiteten sich auch schon für die Nacht vor oder aßen ihr Mahl, hüteten ihr Gepäck oder saßen einfach da, schauten schweigend in den Abend hinaus. Zufällig sind wir bei einem Ehepaar stehen geblieben. Ich hatte sie oft gesehen, und so vom Sehen kannte ich sie schon gut: eine kleine, zerbrechliche Frau mit feinen Zügen und ein magerer Mann mit Brille und etlichen Zahnlücken, ständig mit Schweiß auf der Stirn, ständig hin und her hetzend, ständig alarmbereit. Auch jetzt war er sehr beschäftigt: Er kauerte am Boden und sammelte, von seiner Frau eifrig unterstützt, in großer Eile das Gepäck zusammen, um das er einen Riemen schnallte, und er schien sich ausschließlich um diese Arbeit zu kümmern und um nichts anderes. Doch da ist der Pechvogel hinter ihm stehen geblieben, anscheinend kannte er ihn auch, denn gleich darauf hat er gefragt, ob sie sich auch für die Abreise entschieden hätten. Auch da hat der Mann nur für einen Augenblick über seine Brille hinweg aufgeschaut, blinzelnd, schwitzend, das Gesicht allein schon des Abendlichts wegen angestrengt zusammengezogen, und hat nur die eine erstaunte Frage zur Antwort gegeben: «Gehen müssen wir ja, oder?» Und so einfach sie war, so richtig schien mir im Grunde genommen diese Feststellung.
Am anderen Morgen haben sie uns schon früh auf die Reise geschickt. Der Zug fuhr, bei strahlendem Sommerwetter, vor dem Tor auf dem Geleise der Vorortbahn ab – so ein Güterzug aus lauter ziegelroten, oben und an den Seiten geschlossenen Wagen. In diesen waren wir zu sechzig, dazu das Gepäck, ja und das, was uns die Armbinden-Leute für die Fahrt mitgegeben hatten: Stapel von Broten und große Fleischkonserven – erlesene Ware für Bewohner der Ziegelei, wie ich zugeben musste. Aber ich hatte schon am Tag zuvor festgestellt, wie aufmerksam, wie zuvorkommend wir Abreisenden im Allgemeinen behandelt wurden, sozusagen schon mit einer gewissen Achtung, und auch diese Großzügigkeit mochte vielleicht Ausdruck dessen sein, so empfand ich es. Auch die Gendarmen waren da, bewaffnet, mürrisch, zugeknöpft bis zum Kinn – so als müssten sie auf eine begehrte Ware aufpassen, an der sie sich jedoch kaum noch vergreifen dürften, und zwar gewiss, wie ich mir denken konnte, weil es eine Macht gab, die noch über ihnen stand: die Deutschen. Dann haben sie die Schiebetür hinter uns zugemacht und draußen noch irgendwie daran herumgehämmert, dann sind Signale gegeben worden, Pfiffe, so wie bei der Eisenbahn üblich, dann ein Ruck: Wir fuhren ab. Die Jungen und ich haben es uns bequem gemacht, dort im vordersten Wagendrittel, das wir gleich beim Einsteigen besetzt hatten, zusammen
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