Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Pause, die ich irgendwie als feierlich empfand, fügte er mit einer auf einmal wärmeren, ganz vertraulichen Stimme, als wolle er alles mit Vergessen überdecken, alles verzeihen, hinzu: «Schließlich seid auch ihr ja eigentlich Ungarn!» Eine Stimme, eine tiefe Männerstimme irgendwo aus dem Wageninneren, ließ dann, nach einigem Getuschel, einigem Beratschlagen, verlauten, dass dieses Argument in der Tat einleuchte, freilich nähme man an, dass wir dafür vom Gendarmen Wasser bekämen, und auch dazu zeigte sich dieser bereit, obwohl es, wie er sagte, «gegen die Vorschrift» sei. Dann aber haben sie sich doch nicht einigen können, weil die Stimme zuerst das Wasser, der Gendarm hingegen zuerst die Gegenstände ausgehändigt haben wollte und keiner von seiner Reihenfolge abwich. Schließlich war der Gendarm dann recht erbost: «Ihr Saujuden, ihr würdet noch aus den heiligsten Dingen ein Geschäft machen!» – so sah er es. Und mit einer nur so vor Empörung und Gehässigkeit erstickten Stimme hat er uns auch noch mit dem Wunsch bedacht: «Dann krepiert doch vor Durst!» Was später übrigens geschah – zumindest hieß es so in unserem Wagen. Tatsache ist, dass ich so ungefähr vom Nachmittag des zweiten Tages an nicht mehr umhinkonnte, immer deutlicher eine gewisse Stimme aus dem Waggon hinter uns zu vernehmen – nicht gerade sehr angenehm. Die alte Frau – so sagte man in unserem Waggon – sei krank und, so sei zu vermuten, zweifellos infolge des Dursts wahnsinnig geworden. Die Erklärung schien mir glaubwürdig. Erst jetzt sah ich ein, dass einige zu Beginn der Reise zu Recht festgestellt hatten, was für ein glücklicher Umstand es sei, dass sich in unserem Waggon weder ganz Kleine noch ganz Alte und hoffentlich auch keine Kranken befänden. Am Vormittag des dritten Tages ist die alte Frau dann endlich verstummt. Und da hieß es bei uns: Sie ist gestorben, weil sie kein Wasser bekommen konnte. Aber wir wussten ja: Sie war krank und alt gewesen, und so fanden alle, auch ich selbst, den Fall doch verständlich, letzten Endes.
Ich kann sagen: Die Warterei ist der Freude nicht zuträglich – zumindest war das meine Erfahrung, als wir endlich ankamen. Mag sein, dass ich auch müde war, ja und dann hatte ich vielleicht das Ziel allzu heftig herbeigesehnt und es gerade darüber ein bisschen aus den Augen verloren: Irgendwie war ich eher gleichgültig. Und dann habe ich das ganze Ereignis auch ein bisschen verpasst. Daran erinnere ich mich, dass ich plötzlich erwacht bin, vermutlich von dem rasenden Gekreisch von Sirenen ganz in der Nähe; das von draußen hereinsickernde schwache Licht zeigte schon die Morgendämmerung des vierten Tages an. Mich schmerzte ein bisschen mein Rückgrat, dort, wo es mit dem Boden in Berührung gewesen war. Der Zug stand still, wie sonst oft und immer bei Fliegeralarm. Auch die Fenster waren besetzt, ebenfalls wie immer in einem solchen Augenblick. Alle meinten etwas zu sehen – und auch das war wie sonst. Nach einiger Zeit habe auch ich einen Platz gefunden: Doch ich sah nichts. Die Morgenfrühe draußen war kühl und wohlriechend, über den weiten Feldern graue Nebelschwaden, dann kam plötzlich, gleichsam wie ein Trompetenstoß, von hinten ein scharfer, dünner roter Strahl hervor, und ich begriff: Ich sah die Sonne aufgehen. Es war schön und im Großen und Ganzen interessant: Zu Hause schlief ich um diese Zeit immer noch. Ich nahm dann noch ein Gebäude wahr, eine gottverlassene Station oder vielleicht den Vorboten eines größeren Bahnhofs, gleich links von mir. Es war winzig, grau und noch völlig menschenleer, mit geschlossenen kleinen Fenstern und mit dem lächerlich steilen Dach, wie ich es in dieser Gegend schon am Vortag gesehen hatte: Vor meinen Augen verfestigte es sich im nebligen Dämmerlicht zunächst zu einem wirklichen Umriss, das Grau ging in Violett über, und gleichzeitig blitzten die Fenster rötlich auf, als die ersten Strahlen darauf fielen. Andere hatten das Gebäude gleichfalls wahrgenommen, und auch ich sagte etwas darüber zu den Neugierigen hinter mir. Sie fragten, ob ich nicht auch einen Ortsnamen daran ausmachen könne. Das konnte ich, und zwar gleich zwei Wörter, im Frühlicht, an der schmalen, unserer Fahrtrichtung entgegengesetzten Seite des Gebäudes, auf dem obersten Teil der Wand: «Auschwitz-Birkenau» – stand dort, in der spitzen, schnörkeligen Schrift der Deutschen, verbunden durch ihren doppelt gewellten Bindestrich. Aber was mich
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