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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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können, nun ja, und dann hatten sie uns schließlich auch nicht mitgeteilt, dass die Reise auch diesmal drei Tage dauern würde.
    Auch in Buchenwald kamen wir morgens an, bei sonnigem, aber von durchziehenden Wolken und leichten Windstößen aufgefrischtem, klarem Wetter. Der hiesige Bahnhof schien, zumindest nach jenem in Auschwitz, bloß so eine freundliche, ländliche Station zu sein. Der Empfang war dann schon weniger herzlich: Hier schoben nicht Häftlinge, sondern Soldaten die Tür auf, und das war sogar – wie mir durch den Kopf ging – die erste wirkliche, ich könnte sagen, unverhüllte Gelegenheit, bei der ich in einen so nahen Kontakt, in so enge Berührung mit ihnen kam. Ich konnte nur noch staunen, mit welcher Geschwindigkeit, welcher korrekten Genauigkeit alles vonstatten ging. Ein paar kurze Befehle: «Alle raus!» – «Los!» – «Fünferreihen!» – «Bewegt euch!» ,hier und da ein Knall, mal dumpf, mal scharf, ein paar ausholende Bewegungen mit dem Stiefel, ein paar Stöße mit dem Gewehrkolben, hin und wieder ein unterdrückter Schmerzensschrei – und schon hatte sich unser Zug formiert, schon marschierte er, als würde er von einer Schnur gezogen, schon gesellte sich, am Ende des Bahnsteigs, mit der immer gleichen halben Drehung von beiden Seiten je ein Soldat dazu, immer, wie ich beobachtete, zu jeder fünften Fünferreihe beziehungsweise immer bei jedem fünfundzwanzigsten Mann im gestreiften Anzug – zwei also, so ungefähr in einem Meter Abstand von der Kolonne, den Blick nicht einen Moment abwendend, jetzt aber schon wortlos, Richtung und Tempo allein durch ihren Schritt bestimmend und so diese ganze, ein wenig der in meiner Kindheit mit Hilfe von Papierschnitzeln und Stäbchen in eine Streichholzschachtel gelenkten Raupe ähnlich, in allen ihren Gliedern sich unablässig bewegende und wellende Marschsäule gleichsam ständig am Leben erhaltend; all das hat mich ein wenig betäubt, irgendwie sogar überwältigt. Ich musste aber auch ein bisschen lächeln, weil mir die nachlässige, sozusagen verschämte Polizeibegleitung einfiel, damals zu Hause, auf dem Weg zur Gendarmerie. Aber selbst all die von den Gendarmen verübten Übertreibungen, so musste ich eingestehen, waren nichts als lärmende Wichtigtuerei gewesen, verglichen mit diesem schweigenden, sämtliche Einzelheiten zu vollkommener Übereinstimmung bringenden Sachverstand. Umsonst, dass ich zum Beispiel ihre Gesichter, ihre Mienen ganz genau sehen konnte, die Farbe ihrer Augen oder ihres Haars, den einen oder anderen persönlichen Zug, sogar Fehler, etwa einen Pickel auf der Haut – ich konnte mich an alldem doch nicht festhalten, ich musste irgendwie fast schon bezweifeln, ob die, die hier neben uns marschierten, wahrhaftig und trotz allem unsereinem ähnlich waren, letzten Endes doch aus demselben menschlichen Stoff, im Wesentlichen jedenfalls. Doch dann fiel mir ein, dass vielleicht meine Betrachtungsweise falsch war, denn gewiss war ich ja nicht aus demselben Stoff, natürlich.
    Bei alledem beobachtete ich aber, dass wir eine allmählich mehr und mehr von Wiesen bedeckte Anhöhe hinauftrotteten, wieder auf einer ausgezeichneten, aber nicht wie in Auschwitz geraden, sondern kurvenreichen Landstraße. Ich sah in der Gegend viel natürliches Grün, hübsche Gebäude, weiter entfernt zwischen Bäumen versteckte Villen, Gärten, Parks, und die ganze Landschaft, ihre Ausmaße, alle Proportionen schienen mir gemäßigt, ja, ich darf sagen lieblich – zumindest für das an Auschwitz gewöhnte Auge. Am rechten Straßenrand überraschte uns auf einmal ein richtiger kleiner Tiergarten: Rehe, Nager und noch andere Tiere waren seine Bewohner, darunter ein etwas heruntergekommener Braunbär, der auf das Geräusch unserer Schritte hin in seinem Käfig gleich ganz aufgeregt und bettelnd Männchen machte und sogleich auch ein paar spaßige Bewegungen vorführte – wobei seine Anstrengungen aber diesmal unbelohnt blieben, wie sich versteht. Dann sind wir an einem Denkmal vorbeigekommen, das auf einer Lichtung stand, zwischen zwei sich hier verzweigenden Wegstücken. Die Figur ruhte auf einem weißen Sockel und war aus demselben weißen, weichen, körnigen und matten Stein gefertigt, ein etwas rohes, eher mit improvisierter Kunstfertigkeit ausgeführtes Werk. An den in das Gewand eingehauenen Streifen, dem kahlen Schädel, vor allem aber an ihrem Tun war sogleich ersichtlich: Die Figur sollte einen Gefangenen darstellen. Der vorgestreckte

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