Roman eines Schicksallosen (German Edition)
am zweiten Abend – da sah ich unseren Kommandanten zum ersten Mal ungeduldig, ja, um nicht zu sagen: gereizt – mit den Geräuschen, die in diesem Augenblick aus der Ferne hereindrangen, einem ganzen Wirrwarr von Tönen, in dem, wenn wir die Ohren spitzten, Schreie, Hundegebell und das Knallen von Schüssen auszumachen waren, in dem ziemlich stickigen Dunkel der Baracke; oder dann wieder der Anblick einer Kolonne, wieder jenseits des Drahtzauns, sie kämen von der Arbeit zurück, hieß es, und ich musste es wohl glauben, denn auch ich sah es so, dass auf den Gestellen, die von den am Schluss Marschierenden getragen wurden, tatsächlich Tote lagen, genau so, wie es um mich herum behauptet wurde. Eine Zeit lang gab das meinem Vorstellungsvermögen immer wieder Arbeit auf, versteht sich. Aber – das darf ich sagen – doch nicht genug, um einen ganzen langen Tag des Nichtstuns auszufüllen. So habe ich dann gemerkt: Selbst in Auschwitz kann man sich offenbar langweilen – vorausgesetzt, man gehört zu den Privilegierten. Wir warteten und warteten – und wenn ich es recht bedenke, so warteten wir eigentlich darauf, dass nichts geschähe. Die Langeweile, zusammen mit diesem merkwürdigen Warten: Das, ungefähr dieser Eindruck, glaube ich, ja, mag in Wirklichkeit Auschwitz bedeuten – zumindest in meinen Augen.
Noch etwas muss ich gestehen: Die Suppe habe ich am zweiten Tag gegessen, am dritten wartete ich sogar schon darauf. Überhaupt war ich von der Verpflegungsordnung in Auschwitz einigermaßen befremdet. Morgens kam schon bald eine bestimmte Flüssigkeit, der Kaffee, wie sie sagten. Das Mittagessen, das heißt die Suppe, brachten sie überraschend früh, schon etwa um neun Uhr. Dann aber geschah in dieser Hinsicht bis zur Abenddämmerung nichts mehr, nichts mehr bis zu Brot und Margarine vor der Zeit des Appells: So hatte ich dann bis zum dritten Tag schon eingehend Bekanntschaft mit dem ärgerlichen Gefühl des Hungers gemacht, und auch die Jungen beklagten sich alle darüber. Nur der Raucher bemerkte, dieses Gefühl bedeute für ihn gar nichts Neues, und er seinerseits vermisse eher die Zigaretten – dabei hatte er, abgesehen von seiner gewohnten, merkwürdig knappen Art, einen irgendwie fast schon befriedigten Ausdruck im Gesicht, der mich gerade da ein bisschen reizte, und das war, glaube ich, auch der Grund, warum die Jungen so rasch abwinkten.
Wie sehr es mich auch überrascht hat, als ich nachrechnete, es war tatsächlich so: In Auschwitz habe ich insgesamt eigentlich nur drei volle Tage verbracht. Am vierten Abend saß ich schon wieder in der Eisenbahn, in einem der nun schon bekannten Güterwaggons. Das Ziel – so erfuhren wir – war «Buchenwald» , und wenn ich so vielversprechende Namen jetzt auch schon vorsichtiger aufnahm, der unmerkliche Schimmer von Freundlichkeit, ja Wärme, der Abglanz eines irgendwie zärtlichen, irgendwie träumerischen, irgendwie neidartigen Gefühls auf den Gesichtern einiger Gefangener, die uns verabschiedeten, konnten dennoch nicht reine Täuschung sein, wie mir schien. Ich bemerkte auch, dass unter ihnen viele alteingesessene, gutinformierte Häftlinge waren, sogar Würdenträger, wie an den Armbinden, den Mützen und Schuhen zu sehen war. Auch an der Eisenbahn erledigten alles sie, Soldaten sah ich nur ein paar mittleren Ranges, am Rand der Rampe, und an diesem stillen Ort, in den sanften Farben dieses friedlichen Abends erinnerte nichts, es sei denn seine Größe, an den quirlenden, vor Aufregung, Licht, Bewegung, Stimmen und Lebendigkeit bebenden, an jeder Stelle pulsierenden und vibrierenden Bahnhof, an dem ich einst, beziehungsweise genau vor dreieinhalb Tagen, ausgestiegen war.
Von der Reise kann ich nun noch weniger berichten: Alles verlief in der gewohnten Weise. Jetzt waren wir nicht zu sechzig, sondern zu achtzig, wobei wir aber kein Gepäck hatten, nun, und dann brauchten wir auch nicht auf Frauen zu achten. Auch hier gab es einen Kübel, auch hier war es heiß, und wir waren durstig, dafür aber auch weniger Versuchungen ausgesetzt, ich meine, was das Essen angeht: Die Rationen – ein größeres Stück Brot als gewöhnlich, ein doppelter Streifen Margarine und dazu noch ein Stück von etwas anderem, das äußerlich einigermaßen der heimatlichen Zervelat glich und «Wurst» hieß – wurden am Zug ausgeteilt, und da habe ich sie auch gleich gegessen, einerseits weil ich hungrig war, andererseits weil ich sie im Zug gar nicht recht hätte verstauen
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