Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Stadtbild da und dort schon einigermaßen verändert hatten. Er hörte mir zu, aber wie mir schien, waren diese Informationen nicht so recht nach seinem Geschmack. Am nächsten Tag fing er dann, sobald sich eine Gelegenheit bot, aufs neue von den Lichtern an.
Aber wer kennt schon alle Abarten des Eigensinns, und ich hätte in Zeitz bestimmt – wäre es möglich gewesen – noch zahlreiche andere herausfinden können. Ich hörte viel von der Vergangenheit, viel von der Zukunft, und vor allem hörte ich sehr viel – und ich kann sagen: nirgends kann man anscheinend davon so viel hören wie gerade unter Gefangenen – von der Freiheit, und das ist schließlich, so glaube ich, auch ganz verständlich. Andere wiederum schöpften eine eigentümliche Freude aus einem Spruch, einem Scherz, einer Art Witz. Ich hatte ihn natürlich auch schon gehört. Es gibt eine bestimmte Zeit des Tages, zwischen der Rückkehr aus der Fabrik und dem Abendappell, eine besondere, stets lebendige und zwanglose Stunde, die ich im Lager immer am meisten erwartete und liebte – im Übrigen ist das im Allgemeinen auch die Essenszeit. Ich bahnte mir gerade zwischen emsig Geschäfte machenden und tratschenden Gruppen einen Weg über den Hof, als jemand mit mir zusammenstieß, und unter der zu weiten Sträflingsmütze, über jener charakteristischen Nase, aus jenem charakteristischen Gesicht sah mich ein Paar winziger, bekümmerter Augen an; «da schau her», sagten wir beide mehr oder weniger gleichzeitig, nachdem er mich und ich ihn erkannt hatte: Es war der Pechvogel. Er schien gleich sehr erfreut und erkundigte sich, wo ich untergebracht sei. Ich sagte, in Block fünf. «Schade», sagte er bedauernd, er wohne woanders. Er klagte, dass er nie Bekannte sehe, und als ich ihm sagte, ich eigentlich auch nicht, wurde er plötzlich, ich weiß nicht warum, irgendwie traurig. «Wir verlieren uns aus den Augen, wir verlieren uns alle noch», so bemerkte er, und in seinen Worten, seiner Art, den Kopf zu schütteln, war noch irgendein anderer, für mich ziemlich undurchsichtiger Sinn. Dann aber leuchtete sein Gesicht plötzlich auf, und er fragte: «Wissen Sie, was das hier» – er zeigte auf seine Brust – «bedeutet, dieses U?» Ich sagte, ja natürlich: Ungar. «Nein», erwiderte er, «Unschuldig» , dann hat er auf eine bestimmte Art kurz gelacht und danach noch lange mit sinnender Miene genickt, so als sei dieser Gedanke für ihn besonders wohltuend, ich weiß auch nicht, warum. Und genau das Gleiche sah ich dann bei den anderen im Lager, von denen ich, und das anfänglich ziemlich oft, diesen Witz auch noch hörte: Als schöpften sie daraus irgendein wärmendes, kraftspendendes Gefühl – darauf zumindest verwies das immer gleiche Lachen, die immer gleiche Gelöstheit in den Gesichtern, dieser schmerzlich lächelnde und doch auch irgendwie entzückte Ausdruck, mit dem sie den Witz jedes Mal erzählten oder anhörten, irgendwie so, wie wenn man eine sehr zu Herzen gehende Musik oder eine besonders bewegende Geschichte vernimmt.
Doch auch bei ihnen sah ich nichts anderes als das immer gleiche Bemühen, den gleichen guten Willen: Auch ihnen ging es darum, gute Häftlinge zu sein. Es bestand kein Zweifel, das war unser Interesse, das verlangten die Umstände, dazu zwang uns hier, wie soll ich sagen, das Leben selbst. Waren zum Beispiel die Reihen mustergültig ausgerichtet und stimmte der gegenwärtige Bestand, dann dauerte der Appell weniger lange – anfangs zumindest. Waren wir zum Beispiel bei der Arbeit fleißig, dann konnten wir Schläge vermeiden – öfter zumindest.
Und doch, glaube ich, war es nicht allein dieser Gewinn, nicht allein dieser Nutzen, der unser aller Denken bestimmte, zumindest am Anfang nicht, das kann ich ehrlich sagen. Da war zum Beispiel die Arbeit, der erste Arbeitsnachmittag, um gleich damit anzufangen: Die Aufgabe war, einen Waggon mit grauem Schotter auszuladen. Wenn Bandi Citrom, nachdem wir uns – natürlich mit Erlaubnis des Aufsehers, diesmal eines schon älteren und auf den ersten Blick eher harmlosen Soldaten – obenherum ausgezogen hatten (da sah ich zum ersten Mal Bandis gelblichbraune Haut, das Spiel seiner großen, glatten Muskeln darunter und das Muttermal unter der linken Brust), wenn er also sagte: «Na, dann zeigen wir denen mal, wozu ein Budapester in der Lage ist!», dann meinte er das völlig ernst. Und ich kann sagen, in Anbetracht dessen, dass ich ja zum ersten Mal in meinem Leben eine eiserne
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