Roman eines Schicksallosen (German Edition)
versuchte vorwärtszublicken, aber Aussicht bestand immer nur auf den morgigen Tag, und der morgige Tag war derselbe Tag, oder eben ein genau gleicher Tag – wenn wir Glück hatten, heißt das. Meine Laune wurde schlechter, der Schwung ließ nach, jeden Tag stand ich mit größerer Mühe auf, jeden Abend begab ich mich etwas müder zur Ruhe. Ich war ein bisschen hungriger, ich bewegte mich ein bisschen gezwungener, irgendwie wurde alles schwerer, ja ich selbst fiel mir zur Last. Ich war, wir waren – das kann ich ruhig sagen – schon lange keine guten Häftlinge mehr, und den Beweis dafür konnten wir dann sehr bald an den Soldaten, freilich auch an unseren eigenen Amtsträgern feststellen, vor allem, schon dem Rang nach, am Lagerältesten.
Ihn sah man auch weiterhin, an jedem Ort und zu jeder Zeit, nur in Schwarz. Er gab am Morgen das Pfeifzeichen zum Wecken, er kontrollierte alles noch einmal am Abend, und von seinem Appartement irgendwo da vorn wurde einiges erzählt. Seine Sprache war Deutsch, dem Blut nach war er Zigeuner – auch wir untereinander nannten ihn nur so: «der Zigeuner» –, und das war auch der Hauptgrund, warum ihm das Konzentrationslager als Aufenthaltsort zugeteilt worden war, ein weiterer Grund: jene vom Üblichen abweichende Neigung seiner Natur, die Bandi Citrom gleich auf den ersten Blick bei ihm festgestellt hatte. Die grüne Farbe seines Dreiecks hingegen war der Hinweis für jedermann, dass er angeblich eine etwas ältere und – so heißt es – recht wohlhabende Dame ermordet und ausgeraubt hatte, der er eigentlich sein Auskommen verdankte, sagte man: Auf diese Weise bekam ich zum ersten Mal in meinem Leben aus nächster Nähe auch einen Raubmörder zu Gesicht. Es war sein Amt, die Vorschriften zu pflegen, seine Arbeit, im Lager für Gerechtigkeit und Ordnung zu sorgen – keine sehr angenehme Vorstellung, so auf den ersten Blick, wie alle fanden, ich selbst auch. Andererseits werden, das musste ich einsehen, auf einer gewissen Stufe die Nuancen austauschbar. Ich persönlich zum Beispiel hatte eher Schwierigkeiten mit einem vom Stubendienst, obwohl es ein untadeliger Mann war. Gerade deshalb hatten ihn seine Bekannten gewählt, dieselben, die auch für Doktor Kovács (der Titel bezeichnete in dem Fall – wie ich erfuhr – nicht einen Arzt, sondern einen Anwalt) gestimmt hatten und die, wie ich hörte, alle aus dem gleichen Ort kamen: vom schönen Balaton, aus der Gemeinde Siófok. Es war ein rothaariger Mann, Fodor mit Namen, wie jedermann wusste. Nun gab es, ob zu Recht oder nicht, bei allen die einhellige Meinung, dass der Lagerälteste seinen Stock oder seine Faust zum Vergnügen gebrauchte, weil ihm das, zumindest dem Lagerklatsch zufolge, angeblich eine gewisse Lust verschaffte, etwas, das damit zusammenhing – so wollten die Erfahreneren wissen –, worauf er bei Männern, bei Jungen, ja, zuweilen auch bei Frauen aus war. Für jenen hingegen war die Ordnung nicht nur ein Vorwand, sondern eine echte Voraussetzung, und er tat es – wie er nie zu erwähnen versäumte – im allgemeinen Interesse, wenn er zufällig einmal genötigt war, in gleicher Weise zu verfahren wie der Zigeuner. Andererseits war die Ordnung nie – und nun immer weniger – vollkommen. Deshalb musste er dann mit dem langen Stiel des Schöpflöffels zwischen die Drängelnden fahren, sodass jeder von uns – falls er nicht wissen sollte, wie an den Kessel heranzutreten, wie das Geschirr an einen ganz bestimmten Punkt seines Randes zu halten war – zu den Geschädigten gehören konnte, denen bei solcher Gelegenheit Napf und Suppe aus der Hand flogen, denn, das war ja klar, und auch das zustimmende Gemurmel hinter einem belegte es, so behinderten wir seine Arbeit und infolgedessen auch die Nächsten in der Reihe; deshalb zog er auch die Langschläfer an den Füßen von der Pritsche, denn schließlich büßten ja immer alle für die Vergehen eines Einzelnen. Den Unterschied – ich sah das schon – musste man natürlich in der Absicht suchen, doch wie gesagt, an einem bestimmten Punkt verwischen sich solche Feinheiten, und das Ergebnis empfand ich als das Gleiche, von welcher Seite ich es auch betrachtete.
Dann war da auch noch, mit gelber Armbinde und in einem stets tadellos gebügelten gestreiften Anzug, der deutsche Kapo, den ich zum Glück nicht oft zu Gesicht bekam; und dann tauchten, zu meinem größten Erstaunen, auch in unseren Reihen hier und da schwarze Armbinden auf, mit der bescheideneren
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