Roman eines Schicksallosen (German Edition)
hoch, auch das ist schon mehr als nichts, in gewisser Weise. Kartoffelschalen vom Vortag, einen ganzen Napf voll, sind das Erste gewesen, was ich einem «Finnen» abkaufte. Er holte sie während der Mittagspause hervor, ganz locker, und zum Glück war an diesem Tag Bandi Citrom nicht im gleichen Kommando und konnte so keine Schwierigkeiten machen. Der «Finne» legte ein zerfleddertes Stück Papier vor sich hin, klaubte klumpiges Salz daraus hervor, alles ganz langsam, ganz ausführlich, und mit den Fingerspitzen führte er auch noch eine Prise zum Mund, prüfte den Geschmack, bevor er mir nur so nebenbei, über die Schulter, hinwarf: «Zu verkaufen!» Normalerweise kostete so etwas zwei Scheiben Brot oder die Margarine: er hingegen wollte die Hälfte der Abendsuppe dafür. Ich versuchte zu feilschen, berief mich auf alles, sogar auf die Gleichheit. «Di bist nicht ka jid, d’bist a schegetz», sagte er darauf, mit dem typischen Kopfschütteln der Finnen. Ich fragte ihn: «Und warum bin ich dann hier?» Er zuckte die Schultern: woher er das wissen solle. Ich sagte: «Scheißjude!» Deswegen gebe er es auch nicht billiger, war seine Antwort. Schließlich habe ich es ihm abgekauft, für so viel, wie er wollte, und ich weiß nicht, wie er dann am Abend genau in dem Augenblick auftauchen konnte, als mir die Suppe ausgeschenkt wurde, und ich weiß auch nicht, wie er davon Wind bekommen hatte, dass es Milchnudeln geben würde.
Ich möchte behaupten, dass wir bestimmte Begriffe erst in einem Konzentrationslager wirklich verstehen. In den dummen Märchen meiner Kindheit kam zum Beispiel häufig jener «Wandergesell» oder «arme Bursche» vor, der sich um der Königstochter Hand willen beim König verdingt, und das umso lieber, als es nur für sieben Tage ist. «Aber sieben Tage sind bei mir sieben Jahre!» sagt ihm der König; nun, also, genau das Gleiche könnte ich auch vom Konzentrationslager sagen. Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, dass aus mir so schnell ein verschrumpelter Greis werden könnte. Zu Hause braucht das Zeit, mindestens fünfzig bis sechzig Jahre: Hier hatten schon drei Monate genügt, bis mich mein eigener Körper im Stich ließ. Ich kann sagen, es gibt nichts Peinlicheres, nichts Entmutigenderes, als Tag für Tag zu verfolgen, Tag für Tag in Rechnung zu stellen, dass an uns schon wieder soundso viel abgestorben ist. Zu Hause war ich, auch wenn ich nicht besonders viel Aufmerksamkeit darauf verwendet hatte, so im Allgemeinen mit meinem Organismus im Einklang gewesen, ich hatte diese Maschine, um sie so zu nennen, gemocht. Ich erinnerte mich an einen Sommernachmittag, wie ich im schattigen Zimmer einen aufregenden Roman las, während meine Hand mit wohltuender Zerstreutheit die nachgiebig glatte, goldflaumige Haut meiner von Muskeln gespannten, sonnengebräunten Oberschenkel streichelte. Jetzt hing dieselbe Haut schlaff und faltig hinunter, war gelb und ausgedörrt, bedeckt mit allerlei Geschwüren, braunen Ringen, Rissen und Sprüngen, Falten und Schuppen, die besonders zwischen den Fingern unangenehm juckten. «Krätze», stellte Bandi Citrom mit sachverständigem Kopfnicken fest, als ich es ihm zeigte. Ich konnte nur so staunen über die Geschwindigkeit, das entfesselte Tempo, mit dem die deckende Schicht, die Elastizität, das Fleisch von meinen Knochen dahinschwand, schmolz, abfaulte und allmählich ganz verschwand. Täglich wurde ich von etwas Neuem überrascht, von einem neuen Makel, einer neuen Scheußlichkeit an diesem immer merkwürdiger, immer fremder werdenden Gegenstand, der einst mein guter Freund: mein Körper gewesen war. Ich konnte ihn schon gar nicht mehr ohne ein zwiespältiges Gefühl, ohne Schaudern betrachten; deshalb zog ich mich mit der Zeit nicht mehr aus, wusch mich nicht mehr, schon weil sich alles in mir gegen solche unnötigen Anstrengungen sträubte, auch schon wegen der Kälte, nun ja, und dann natürlich wegen der Schuhe.
Diese Gerätschaften machten, jedenfalls mir, sehr viel Ärger. Überhaupt konnte ich mich mit den Kleidungsstücken, mit denen ich im Konzentrationslager ausgestattet worden war, nicht verstehen: Es fehlte ihnen an Zweckmäßigkeit, dafür besaßen sie viele Mängel, ja, sie wurden geradezu zu einem Quell von Unannehmlichkeiten – ich kann allgemein sagen: Sie bewährten sich nicht. So etwa verwandelt sich zur Zeit des grauen Nieselregens – der mit dem Wechsel der Jahreszeit ein dauernder wird – das Drillichzeug in ein steifes Ofenrohr, dessen
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