Roman eines Schicksallosen (German Edition)
in die Nachbarschaft, zu den anderen Blocks hinübergedrungen, hatten sich verbreitet, sich gleichsam durchgefressen, denn auch dort bemerkte ich immer mehr bewegte Lippen und sich vorsichtig, aber dennoch entschlossen vor und zurück wiegende Schultern, Hälse, Köpfe. Das Murmeln war hier, mitten im Glied, nur eben knapp hörbar, dafür aber andauernd, wie ein unterirdisches Grollen: «Jiskadal, wöjiskadal», erklang es in einem fort, und so viel weiß sogar ich, dass es das sogenannte Kaddisch ist, das Gebet der Juden zu Ehren der Toten. Und möglich, dass auch das nur eine Art des Eigensinns war, die letzte, einzig verbliebene, vielleicht – das musste ich zugeben – ein wenig zwangsmäßige, sozusagen vorgeschriebene, in gewissem Sinn zugeschnittene, gleichsam auferlegte und zugleich nutzlose Variante des Eigensinns (denn im Übrigen veränderte sich ja da vorn überhaupt nichts, regte sich, abgesehen von den letzten Zuckungen der Gehenkten, überhaupt nichts, geschah auf die Worte hin gar nichts); und doch musste ich das Gefühl irgendwie verstehen, in dem das Gesicht des Rabbi sich gewissermaßen aufzulösen schien und dessen Stärke sogar noch seine Nasenflügel so seltsam erbeben ließ. Als wäre jetzt der lang ersehnte Augenblick, jener siegreiche Augenblick gekommen, von dessen Eintritt er, wie ich mich erinnerte, noch in der Ziegelei gesprochen hatte. Und tatsächlich, jetzt zum ersten Mal, warum, weiß ich nicht, hatte ich auf einmal das Gefühl, dass mir etwas fehlte, ja in gewisser Weise sogar das Gefühl von Neid, jetzt zum ersten Mal bedauerte ich es ein wenig, dass ich nicht – wenigstens ein paar Sätze – in der Sprache der Juden zu beten verstand.
Doch weder Eigensinn noch Beten, noch sonst irgendeine Art von Flucht hätten mich von einem befreien können: vom Hunger. Auch zu Hause war ich hungrig gewesen – oder hatte zumindest geglaubt, es zu sein; hungrig war ich auch in der Ziegelei, in der Eisenbahn, in Auschwitz und sogar in Buchenwald gewesen – so andauernd aber, auf so lange Frist, sozusagen, hatte ich dieses Gefühl noch nicht gekannt. Ich verwandelte mich in ein Loch, in Leere, und mein ganzes Bemühen, mein ganzes Bestreben ging dahin, diese bodenlose, diese unablässig fordernde Leere aufzuheben, zu stopfen, zum Schweigen zu bringen. Nur dafür hatte ich Augen, nur dem konnte mein ganzer Verstand dienen, nur das all mein Tun bestimmen, und wenn ich nicht Holz, Eisen oder Stein aß, dann nur, weil es Dinge sind, die sich nicht zerkauen und verdauen lassen. Aber mit Sand zum Beispiel habe ich es versucht, und wenn ich zufällig Gras sah, zögerte ich nie – nur gab es in der Fabrik und auf dem Lagergelände nicht gerade viel Gras, leider. Für eine einzige magere kleine Zwiebel wurden zwei Schnitten Brot verlangt, und für ebenso viel verkauften Glückliche, Begüterte die Zucker- und die Futterrübe: Im Allgemeinen zog ich die Letztere vor, weil sie saftiger und meistens auch größer ist, obwohl die Sachkundigen dafürhalten, dass die Zuckerrübe mehr Gehalt, mehr Nährwert besitze – doch wer wollte da wählerisch sein; bloß ertrug ich ihr zähes Fleisch, ihren scharfen Geschmack weniger gut. Aber es genügte mir auch schon und war mir ein gewisser Trost, wenn wenigstens andere aßen. Unseren Aufsehern zum Beispiel wurde das Mittagessen in die Fabrik gebracht, und ich konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Ich muss sagen, viel Freude hatte ich nicht an ihnen: Sie aßen hastig, kauten gar nicht richtig, sie überstürzten das Ganze und hatten, wie ich sah, keine Ahnung, was sie da eigentlich taten. Ein andermal war ich einem Werkstattkommando zugeteilt: Da packten die Meister aus, was sie von zu Hause mitgebracht hatten, und – ich erinnere mich – lange schaute ich einer gelben, schwieligen Hand zu, wie sie aus einem länglichen Glas lange, grüne Bohnen herausangelte, eine nach der anderen, und mag sein, ich schaute vielleicht auch noch mit irgendeiner leicht unsicheren, irgendwie unbestimmten Hoffnung zu. Doch die schwielige Hand – ich kannte schon jede ihrer Schwielen und schon jede ihrer Bewegungen im voraus – wanderte immer nur zwischen Glas und Mund hin und her, erging sich nach wie vor nur auf dieser Strecke. Nach einer Weile wurde auch das vom Rücken verdeckt, denn der Mann hatte sich abgewandt, und ich verstand natürlich, warum: aus Menschlichkeit, obwohl ich ihm gern gesagt hätte, nur ruhig zu, nur weiter, ich meinerseits halte schon den Anblick
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