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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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hatte und dass es viel, sehr viel zu bereuen gab. So waren da – wie ich mich erinnern musste – Speisen gewesen, in denen ich wählerisch herumgestochert und die ich dann beiseitegeschoben hatte, ganz einfach, weil ich sie nicht mochte, und in diesem Augenblick erschien mir das als ein unverständliches und nicht wiedergutzumachendes Versäumnis. Oder dann war da zwischen meinem Vater und meiner Mutter dieses sinnlose Hin und Her, meine Person betreffend. Wenn ich wieder nach Hause komme, so dachte ich, so, mit diesem einfachen, selbstverständlichen Gebrauch der Worte, ohne auch nur zu stocken, so als interessierte mich überhaupt nichts anderes als die Fragen, die aus dieser allernatürlichsten Tatsache folgen: Also, wenn ich wieder nach Hause komme, mache ich dem auf jeden Fall ein Ende, da muss Friede sein – so beschloss ich. Dann hatte es zu Hause Dinge gegeben, die mich nervös gemacht hatten, ja, vor denen ich mich – so lächerlich es sein mag – gefürchtet hatte, so etwa vor bestimmten Unterrichtsfächern, vor den Lehrern, davor, dass ich aufgerufen und dabei vielleicht versagen würde, und schließlich vor meinem Vater, wenn ich ihm dann das Ergebnis berichtete: Jetzt beschwor ich diese Ängste immer wieder herauf, und zwar allein um des Vergnügens willen, sie wieder durchleben und über sie lächeln zu können. Doch meine Lieblingsbeschäftigung bestand darin, mir einen vollständigen, lückenlosen Tag zu Hause vorzustellen, immer wieder, möglichst vom Morgen bis zum Abend, und mich dabei nach wie vor in Bescheidenheit zu üben. Denn es hätte mich ja Kraft gekostet, wenn ich mir einen besonderen, gar einen vollkommenen Tag vorgestellt hätte – und so stellte ich mir einfach einen schlechten Tag vor, mit dem frühen Aufstehen, der Schule, dem unbehaglichen Gefühl, dem schlechten Mittagessen, und hier im Konzentrationslager verwirklichte ich all die vielen Möglichkeiten, die ich dabei verpasst, verworfen, ja nicht einmal bemerkt hatte, verwirklichte sie, ich darf es sagen, so vollkommen wie nur möglich. Ich hatte schon davon gehört, und nun konnte ich es auch selbst bezeugen: Tatsächlich, nicht einmal enge Gefängnismauern können den Flügelschlag der Vorstellungskraft hemmen. Das Problem war nur: Wenn sie mich so weit wegtrug, dass ich dabei sogar meine Hände vergaß, dann trat bald mit größtem Nachdruck, größter Bestimmtheit die schließlich doch durchaus hier vorhandene Wirklichkeit wieder in Kraft.
    Um diese Zeit begann es sich in unserem Lager hin und wieder zuzutragen, dass beim Morgenappell die Bestandszahlen nicht stimmten – wie kürzlich etwa neben uns, in Block sechs. Alle wissen sehr wohl, was da geschehen ist, denn das Wecken in einem Konzentrationslager weckt nur die nicht, die man sowieso nicht mehr wecken kann, und die sind erfasst. Das aber ist nun die zweite Art, zu entkommen, und wer wäre nicht – einmal nur, wenigstens ein einziges Mal – in Versuchung geraten, wer wäre imstande, stets unerschütterlich festzubleiben, und das vor allem morgens, wenn man zu einem neuen Tag aufwacht, nein – schreckt, in dem schon lärmenden Zelt, inmitten sich schon aufrappelnder Leute – ich jedenfalls könnte nicht widerstehen, ich würde es versuchen, wenn mich Bandi Citrom nicht immer daran hinderte. Schließlich ist der Kaffee nicht so wichtig, zum Appell aber ist man dann schon da – so denkt man, so dachte auch ich. Selbstverständlich bleiben wir nicht auf unserem Schlaflager – so kindisch kann ja schließlich niemand sein –, sondern wir stehen auf, anständig, wie es sich gehört, so wie die anderen, und dann … wir kennen da einen Ort, einen garantiert sicheren Winkel, da wetten wir hundert zu eins. Gestern, vielleicht schon früher, haben wir ihn uns ausersehen, ihn bemerkt, entdeckt, ganz zufällig, ohne Plan, ohne Absicht, nur so mit dem Gedanken spielend. Und jetzt kommt er uns in den Sinn. Wir kriechen zum Beispiel unter die untersten Boxen. Oder wir suchen jenen hundertprozentig sicheren Spalt auf, jenen Winkel, jene Vertiefung, jene Ecke. Da decken wir uns dann gut mit Heu, Stroh und Decken zu. Und das immer mit dem Gedanken, dass wir beim Appell wieder präsent sind – wie gesagt, es gab Zeiten, da ich das gut, sehr gut verstand. Die Waghalsigeren mochten vielleicht auch denken, dass eine einzelne Person noch irgendwie durchschlüpft: Zum Beispiel verzählt man sich – schließlich sind wir ja alle nur Menschen; dass eine einzige Abwesenheit –

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