Roman eines Schicksallosen (German Edition)
nur heute, ausschließlich heute Morgen – nicht unbedingt ins Auge fällt, und am Abend, dafür sorgen wir schon, stimmt dann der Bestand wieder; die noch Waghalsigeren: dass man sie an jenem sicheren Ort auf keine Weise, unter keinen Umständen finden kann. Doch wer wirklich zu allem entschlossen ist, denkt noch nicht einmal daran, sondern ist ganz einfach der Meinung – und zuweilen dachte auch ich so –, dass eine Stunde guten Schlafs jedes Risiko und jeden Preis wert ist, schließlich und endlich.
Aber zu so viel reicht es dann meistens nicht, denn morgens geht alles ganz schnell, sieh da, schon hat sich der Suchtrupp in größter Eile formiert: zuvorderst der Lagerälteste, in Schwarz, frisch rasiert, mit keckem Schnurrbart, duftend, dicht hinter ihm der deutsche Kapo, dahinter ein paar von den Blockältesten und vom Stubendienst, mit einsatzbereiten Keulen, Knüppeln und Stöcken, und schon biegen sie geradewegs zum Block sechs ein. Drinnen dann Lärm und Durcheinander, und schon nach ein paar Minuten – man höre nur! –, da schmettert es siegesbewusst, da hat die Spur zum Ziel geführt. Eine Art Fiepsen mischt sich hinein, immer schwächer, bis es verstummt, und bald erscheinen auch die Jäger wieder auf dem Plan. Was sie aus dem Zelt mit sich schleppen – nur noch ein Haufen scheint es, ein toter Gegenstand, ein Lumpenbündel –, werfen sie am Ende der Reihe hin, richten es aus: Ich bemühte mich, nicht hinzuschauen. Und doch hat der Bruchteil irgendeiner Einzelheit hier, eine noch immer erkennbare Linie dort, ein Zug, ein Kennzeichen meinen Blick in die Richtung gezwungen und mir verraten, wer das gewesen ist: der Pechvogel. Dann: «Arbeitskommandos antreten!» ,und wir können ganz sicher sein, dass die Soldaten heute strenger sein werden.
Und zu guter Letzt ist auch noch die dritte, die wirkliche, wörtliche Art des Entkommens zu erwägen, offensichtlich, denn auch dafür hat es einmal, ein einziges Mal, in unserem Lager ein Beispiel gegeben. Die Flüchtigen waren zu dritt, alles Letten, erfahren, in Ortskenntnis und deutscher Sprache bewandert, ihrer Sache gewiss – so flüsterte man die Neuigkeit herum –, und ich kann sagen, dass wir, nach der ersten Anerkennung, der ersten heimlichen Schadenfreude, unsere Wächter betreffend, ja, der ersten da und dort aufkeimenden Bewunderung, einer aufflackernden Stimmung, in der fast schon eine Nachahmung erwogen, auf ihre Möglichkeiten hin abgeschätzt wurde – dass wir dann alle recht wütend waren auf sie, will sagen, in der Nacht, so gegen zwei, drei Uhr, als wir zur Strafe für ihre Tat noch immer beim Appell standen, besser gesagt: schwankten. Am nächsten Abend, bei der Heimkehr, gab ich mir dann wiederum Mühe, nicht nach rechts zu schauen. Da standen nämlich drei Stühle und darauf saßen drei Menschen, so etwas wie Menschen. Welchen Anblick sie im Einzelnen boten, wie die in großen, ungeschlachten Buchstaben gehaltene Aufschrift auf den Papptafeln um ihre Hälse lautete: Es schien mir einfacher, all das nicht so genau zu erkunden (es ist mir dann trotzdem zur Kenntnis gebracht worden, weil man im Lager noch lange davon sprach: «Hurra! Ich bin wieder da!» );außerdem erblickte ich ein Gebilde, ein Gestell, das ein bisschen an die Teppichklopfstangen in den Höfen zu Hause erinnerte, daran drei Stricke, zu Schlingen gebunden – so begriff ich es dann: ein Galgen. Von Abendessen konnte natürlich nicht die Rede sein, es hieß sofort: «Appell!» , dann: «Das ganze Lager: Achtung!» ,wie da vorn aus voller Kehle der Lagerälteste höchstpersönlich anordnete. Die üblichen Strafvollzieher stellten sich auf, nach einer weiteren Wartezeit erschienen auch die Vertreter der militärischen Macht, und dann ging alles vonstatten, wie sich’s gehörte, um es so zu sagen – zum Glück ziemlich weit von uns entfernt, vorn, in der Nähe der Waschtröge, und ich habe auch gar nicht hingeschaut. Ich horchte eher nach links, woher plötzlich die Stimme kam, ein Gemurmel, eine Art Melodie. Auf einem dünnen, vorgestreckten Hals erblickte ich, da in der Reihe, einen etwas zittrigen Kopf – vor allem eigentlich eine Nase und ein riesiges, in dem Augenblick irgendwie in ein verrücktes Licht getauchtes, feuchtes Auge: der Rabbi. Bald darauf verstand ich auch seine Worte, umso mehr, als sie von mehreren in der Reihe aufgenommen wurden. Von allen «Finnen» zum Beispiel, aber von vielen anderen auch. Ja, ich weiß gar nicht, wie, aber sie waren schon
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