Roman eines Schicksallosen (German Edition)
natürlich die Freude der anderen, weil mir ja sofort die schönen Tage von damals, nun und dann ganz besonders die morgendlichen Suppen in den Sinn kamen. Hingegen habe ich nicht daran gedacht, das muss ich gestehen, dass ich vorher ja auch noch dorthin kommen musste, und zwar mit der Bahn und unter den bei solchen Reisen üblichen Bedingungen; jedenfalls kann ich sagen, dass es Dinge gibt, die ich bis dahin nie verstanden hatte und die ich auch schwerlich überhaupt hätte glauben können. Zum Beispiel ließ sich ein früher oft gehörter Ausdruck wie «sterbliche Überreste» nach meinem vormaligen Wissen ausschließlich auf einen Verstorbenen beziehen. Ich jedoch, daran war kein Zweifel, lebte noch, wenn auch flackernd, ganz hinuntergeschraubt gewissermaßen, aber etwas brannte noch in mir, die Lebensflamme, wie man so sagt – andererseits war da mein Körper, ich wusste alles von ihm, nur war ich selbst irgendwie nicht mehr in ihm drin. Ich konnte ohne weiteres feststellen, dass dieses Ding, zusammen mit ähnlichen Dingen neben und über ihm, hier lag, auf dem kalten und von verdächtigen Säften feuchten Stroh des rumpelnden Wagenbodens, dass der Papierverband sich schon längst gelöst hatte, zerfleddert und weggerissen war, dass mein Hemd und die Sträflingshose, die man mir für die Reise angezogen hatte, sich mit den offenen Wunden verklebten – aber all das berührte mich nicht wirklich, interessierte mich nicht, es beeinflusste mich nicht mehr, ja, ich darf sagen, dass ich mich schon lange nicht mehr so leicht, so friedlich, fast schon verträumt, um es rundheraus zu sagen: so angenehm gefühlt hatte. Nach so langer Zeit war ich zum ersten Mal endlich auch die Qual der Gereiztheit los: Die Körper, die an mich gepresst waren, störten mich nicht mehr, irgendwie freute es mich eher, dass sie bei mir waren, mir so vertraut und dem meinen so ähnlich, und jetzt zum ersten Mal erfasste mich ihnen gegenüber ein ungewohntes, regelwidriges, irgendwie linkisches, um nicht zu sagen ungeschicktes Gefühl – möglicherweise vielleicht Liebe, glaube ich. Und Gleiches wurde mir von ihnen zuteil. Hoffnungen, wie zu Anfang, versuchten sie mir allerdings nicht mehr zu machen. Möglicherweise war das, was sie hin und wieder kundgaben – abgesehen von dem allgemeinen leichten Stöhnen, dem Atemholen zwischen den Zähnen, den leisen Klagen –, gerade deswegen, natürlich aber auch wegen der übrigen Schwierigkeiten, so still und andererseits auch so familiär: hier ein tröstendes Wort, da ein beruhigender Zuspruch. Aber ich kann sagen, auch mit Taten geizte nicht, wer dazu nur noch irgend fähig war, und auch zu mir reichten Hände in barmherziger Fürsorge aus wer weiß welcher Entfernung die Konservendose weiter, nachdem ich gemeldet hatte, dass ich urinieren musste. Als dann am Ende auf einmal – ich weiß nicht, wie, wann und vermittels welcher Hände – statt der Bretter des Eisenbahnwagens die von einer Eishaut überzogenen Pfützen eines gepflasterten Bodens unter meinem Rücken waren, da bedeutete es mir allerdings nicht mehr viel, glücklich in Buchenwald angekommen zu sein, und ich hatte längst vergessen, dass es eigentlich der Ort war, an den es mich so sehr gezogen hatte. Ich hatte auch keine Ahnung, wo ich war: noch am Bahnhof oder schon ein Stück weiter drinnen, ich erkannte die Gegend nicht und sah auch nicht die Straße, die Villen und das Denkmal, an das ich mich doch so gut erinnern konnte.
Auf jeden Fall schien mir, dass ich lange so lag, und ich war einfach da, friedlich, sanft, ohne Neugier, voller Geduld, einfach da, wo sie mich hingelegt hatten. Ich spürte weder Kälte noch Schmerz, und auch dass mir irgendwie ein stechender Niederschlag, zwischen Schnee und Regen, das Gesicht nass machte, wurde mir eher von meinem Verstand als von meiner Haut vermittelt. Ich sann der einen oder anderen Sache nach, schaute mir an, was mir eben so, ohne unnötige Bewegung, ohne Anstrengung vor die Augen kam: so etwa den niedrigen, grauen, undurchsichtigen Himmel über meinem Gesicht, genauer, die bleigrauen, trägen Winterwolken, die ihn vor meinen Augen verbargen. Hin und wieder entstand unverhofft ein Spalt, ein helleres Loch, für einige Augenblicke, als sei da plötzlich eine Tiefe zu erahnen, aus der von dort oben ein Strahl auf mich herabzufallen schien, ein rascher, forschender Blick, von der Farbe her unbestimmbare, aber zweifellos helle Augen – irgendwie denen des Arztes ähnlich, vor den ich
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