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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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er, es wäre am besten, wenn er sich unverzüglich ans Werk machte. Das hat er dann auch auf der Stelle getan, nur konnte ich nicht umhin, mich etwas laut zu benehmen, und das, so sah ich, war ihm unbehaglich. Er bemerkte auch mehrmals: «So kann ich nicht arbeiten», und ich versuchte mich zu verteidigen: «Ich kann nichts dafür.» Nachdem er einige Zentimeter vorangekommen war, hat er dann aufgehört, ohne sein Vorhaben in vollem Umfang ausgeführt zu haben. Aber auch so schien er leidlich zufrieden, denn er bemerkte: «Immerhin etwas», weil er mir von nun an wenigstens an zwei Stellen Eiter abzapfen konnte, wie er sagte.
    Die Zeit verging im Krankenhaus leicht: Wenn ich nicht gerade schlief, beschäftigten mich Hunger, Durst, der Schmerz in der Wunde, da und dort eine Unterhaltung oder das Ereignis der Behandlung – aber auch ohne Beschäftigung, ja, ich darf sagen: gerade dank des angenehm kribbelnden Bewusstseins davon, dank dieses unversiegbare Freude bietenden Privilegs befand ich mich sehr wohl. Hie und da fragte ich auch die Neuankömmlinge aus: Was es Neues im Lager gebe, aus welchem Block sie kämen und ob sie nicht zufällig einen gewissen Bandi Citrom aus Block fünf kennten, einen Mittelgroßen mit gebrochener Nase und Zahnlücken vorn, aber keiner wusste etwas. Was ich im Behandlungszimmer an Wunden sah, war der meinen ähnlich, ebenfalls hauptsächlich am Ober- oder Unterschenkel, obwohl die Wunden manchmal auch weiter oben vorkamen, an der Hüfte, hintenherum, an den Armen, sogar am Hals und am Rücken; es waren von der Wissenschaft so genannte Phlegmone, so hörte ich es immer wieder, deren Entstehen und gehäuftes Auftreten unter den gewöhnlichen Umständen eines Konzentrationslagers keineswegs etwas Besonderes oder Erstaunliches war, wie ich von den Ärzten erfuhr. Etwas später kamen dann die, denen man ein, zwei, ja sogar manchmal alle Zehen abschneiden musste, und sie berichteten, draußen sei es Winter, und in den Holzschuhen seien ihnen die Füße erfroren. Ein andermal betrat, in maßgeschneidertem Sträflingsanzug, ein offensichtlich hochrangiger Würdenträger den Behandlungsraum. Ich hörte das leise, aber gut verständliche Wort «Bonjour!», und daraus sowie aus dem F in seinem roten Dreieck folgerte ich sogleich, dass er Franzose, und aus seiner mit «O.-Arzt» beschriebenen Armbinde, dass er offenbar der Oberarzt unseres Krankenhauses war. Ich schaute mir ihn gut an, denn ich hatte schon lange keinen so schönen Mann gesehen, der mit ihm vergleichbar gewesen wäre: Er war nicht sehr groß, sein Anzug aber in den richtigen Proportionen ausgefüllt mit Fleisch, das sich überall in ausreichender Menge über die Knochen spannte, sein Gesicht ebenso voll, jeder Zug unverwechselbar der seine, mit erkennbarem Ausdruck und Mienenspiel, sein Kinn rund, mit einer Vertiefung in der Mitte, seine etwas dunkle, olivfarbene Haut schimmerte im Licht, so wie einst Haut geschimmert hatte, früher einmal, zu Hause, unter den Menschen. Mir schien er noch nicht sehr alt, so um die dreißig herum. Wie ich sah, wurden auch die Ärzte sehr munter, sie bemühten sich, ihm gefällig zu sein, ihm alles zu erklären, das aber, wie ich merkte, nicht so sehr nach dem lagerüblichen Brauch, sondern eher nach alter, heimatlicher und irgendwie sogleich Erinnerungen heraufbeschwörender Gewohnheit und mit der Gewähltheit, Freude und dem gesellschaftlichen Eifer, die aufkommen, wenn man Gelegenheit hat, zu zeigen, dass man eine Kultursprache hervorragend verstehen und sprechen kann, wie etwa in diesem Fall Französisch. Andererseits – so musste ich sehen – bedeutete das dem Oberarzt offenbar nicht viel: Er schaute sich alles an, gab da und dort eine kurze Antwort, oder er nickte, das alles aber langsam, leise, schwermütig, gleichgültig, mit einem irgendwie unveränderlichen Ausdruck von Entmutigung, ja, beinahe schon Trauer im Gesicht und in den nussbraunen Augen. Ich war ganz verdutzt, weil ich überhaupt nicht begriff, woran das bei einer so wohlhabenden, gutgestellten, vornehmen Person liegen konnte, die es außerdem zu einem so hohen Rang gebracht hatte. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, seine Bewegungen zu verfolgen, und nur allmählich kam ich dahinter: Auch er war, da gab es nichts dran zu rütteln, letzten Endes gezwungen, hier zu sein, und nur allmählich und nicht ohne ein Staunen, eine heitere Verblüfftheit, verstärkte sich bei mir ein Eindruck, eine Vermutung, nämlich dass es eben

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