Roman eines Schicksallosen (German Edition)
Lumpen, Papier und Konservendosen übersät war, begann in der hochsommerlichen Hitze zu schmelzen, als man in Buchenwald auch mich fragte, ob ich Lust hätte, die Reise anzutreten. Wir wären zumeist junge Leute, so hieß es, unter der Führung einer stämmigen Exzellenz vom ungarischen Lagerkomitee, eines schon grau werdenden Mannes mit Brille, der unterwegs die Dinge für uns erledigen wollte. Es gebe einen Lastwagen, nun, und auch die Bereitschaft seitens der amerikanischen Soldaten, uns ein Stück nach Osten mitzunehmen: Das Weitere sei unsere Sache, sagte der Mann und forderte uns auf, ihn «Onkel Miklós» zu nennen. Das Leben, fügte er hinzu, müsse weitergehen, und, ja, wirklich, etwas anderes konnte es nicht tun, das sah ich ein, nachdem die Dinge nun einmal so standen, dass es überhaupt etwas tun konnte, versteht sich. Im Großen und Ganzen durfte ich mich wieder als gesund betrachten, abgesehen von einigen Seltsamkeiten, kleineren Unannehmlichkeiten. Wenn ich mir zum Beispiel an irgendeiner Stelle meines Körpers den Finger ins Fleisch bohrte, blieb die Spur, die Einbuchtung noch lange da, so als hätte ich ihn in irgendein lebloses, unelastisches Material, sagen wir in Käse oder Wachs gebohrt. Auch mein Gesicht überraschte mich etwas, als ich es in einem der wohnlichen, mit einem Spiegel eingerichteten Zimmer des SS-Krankenhauses zum ersten Mal erblickte, denn von früher her hatte ich ein anderes Gesicht in Erinnerung. Dieses, das ich nun anschaute, hatte unter dem ein paar Zentimeter nachgewachsenen Haar eine auffällig niedrige Stirn, unter dem merkwürdig verbreiterten Ohransatz zwei ganz neue, unförmige Geschwülste, andernorts weiche Taschen und Säcke, und es glich – zumindest wenn ich meiner Lektüre von früher glauben wollte – im Großen und Ganzen eher den faltigen, zerfurchten Gesichtern von Menschen, die sich in allen Lüsten und Wonnen umgetan hatten und deshalb früh vergreist waren, und auch den Blick der winzig gewordenen Augen hatte ich anders, freundlicher, ja vertrauenerweckender in Erinnerung. Nun und dann hinkte ich auch noch ein bisschen, zog ein wenig das rechte Bein nach: Kein Problem – sagte Onkel Miklós –, die Heimatluft bringt das dann schon in Ordnung. Zu Hause – ließ er verlauten – bauen wir uns eine neue Heimat, und fürs Erste brachte er uns auch gleich ein paar Lieder bei. Als wir dann zu Fuß durch Ortschaften und Kleinstädte zogen – was im Lauf unserer Reise hin und wieder vorkam –, sangen wir sie, militärisch in Dreierkolonne geordnet. Ich meinerseits lernte besonders «Vor Madrid auf Barrikaden» schätzen – warum, wüsste ich eigentlich gar nicht zu sagen. Aus anderweitigen Gründen, aber ebenso gern sang ich auch ein anderes, vor allem wegen folgender Stelle: «Wir schuften den lieben langen Tag/wir darben ohne Ende/doch schon nehmen wir das Gewehr/fest in die zerschundenen Hände!» Wieder aus anderen Gründen lag mir eines am Herzen, in dem die Zeile vorkam: «Wir sind die junge Gar-de, das Pro-le-tari-at», worauf wir mit gewöhnlicher Stimme dazwischenrufen mussten: «Rotfront!», denn da vernahm ich jedes Mal deutlich das Klirren von Fenstern, die geschlossen, das Knallen von Türen, die zugeschlagen wurden, und sah rasch von Tor zu Tor huschende oder eilig dahinter verschwindende Menschen, Deutsche.
Im Übrigen hatte ich mich mit leichtem Gepäck: einem einigermaßen unhandlichen, weil zu engen und dafür zu langen hellblauen Leinending – einem amerikanischen Militärsack auf den Weg gemacht. Darin meine beiden dicken Decken, Unterwäsche zum Wechseln und ein grauer, schön gestrickter Pullover aus SS-Beständen, an den Handgelenken und am Hals mit einem grünen Streifen verziert, na und dann auch noch Proviant: Konserven und dergleichen. Ich selbst trug die grüne Tuchhose der amerikanischen Armee, ebenso deren sehr dauerhaft wirkende Schnürschuhe mit Gummisohlen, darüber die Gamaschen aus unverwüstlichem Leder, mit all den entsprechenden Riemen und Schnallen. Für meinen Kopf hatte ich mir eine seltsam geformte, zumindest der Jahreszeit nicht ganz gemäße, ein wenig zu schwere Mütze beschafft, die eine hohe Blende und oben Kanten und Ecken: ein schiefes Viereck, ein – wie mir aus der längst vergangenen Schulzeit einfiel – Rhombus schmückte und die vor mir ein polnischer Offizier getragen haben soll, wie man mir sagte. Es hätte mir aus den Magazinen wohl auch zu einer besseren Jacke gereicht, aber das bewährte
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