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Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Roman eines Schicksallosen (German Edition)

Titel: Roman eines Schicksallosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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handelnden Lieblingsbüchern gelesen hatte.
    Auch der folgende Tag versprach aufregend zu werden – aber wer vermöchte schon jeden einzelnen Tag mit all seinen Ereignissen gegenwärtig zu halten. Auf jeden Fall kann ich berichten, die Küche funktionierte bis zuletzt ordnungsgemäß, und auch der Arzt war zumeist pünktlich. Eines Morgens dann, nicht lange nach dem Kaffee, eilige Schritte im Flur, ein schmetternder Ruf, so etwas wie eine Losung, worauf Pjetka schleunigst sein Paket aus seinem Versteck hervorholte, es sich unter den Arm klemmte und verschwand. Bald darauf, etwa gegen neun Uhr, hörte ich, wie sich der Kasten zum ersten Mal nicht an die Gefangenen, sondern an die Soldaten wandte: «An alle SS-Angehörigen» , und zwar gleich zweimal hintereinander: «Das Lager ist sofort zu verlassen!» Darauf hörte ich näher kommenden, sich entfernenden, eine Zeit lang mir gleichsam um die Ohren sausenden, dann allmählich abebbenden Gefechtslärm, worauf es still wurde – allzu still, denn umsonst wartete, lauschte, lauerte und horchte ich: Weder zur gewohnten Zeit noch danach gelang es mir, das – doch schon längst fällige – Geklapper, die dazugehörigen Rufe der Suppenträger auszumachen. Es war ungefähr gegen vier Uhr nachmittags, als der Kasten endlich knackte und uns nach einem kurzen Knistern und etlichen Blasgeräuschen mitteilte, hier sei der Lagerälteste, hier spreche der Lagerälteste. «Kameraden» , sagte er, hörbar mit einem Gefühl kämpfend, das ihn in der Kehle würgte, was seine Stimme einmal abbrechen, dann wieder zu scharf werden, beinahe schon in ein Pfeifen übergehen ließ, «wir sind frei!» ,und ich dachte daran, dass also in diesem Punkt der Lagerälteste die gleiche Einstellung haben musste wie Pjetka, Bohusch, der Arzt und andere Gleichgesinnte, dass er anscheinend mit ihnen unter einer Decke steckte, um es so zu sagen, wenn er das Ereignis nun in dieser Weise und auch noch mit so offensichtlicher Freude verkünden konnte. Dann hat er eine kurze, hübsche Rede gehalten, und nach ihm kamen noch andere, redeten in verschiedensten Sprachen: «Attention, attention!» hörte ich zum Beispiel auf Französisch; «Posor, posor!», auf Tschechisch, glaube ich; «Njimanje, njimanje, ruski to warischtschi, njimanje!», und der melodische Tonfall beschwor für mich mit einemmal eine liebe Erinnerung herauf, denn es war die Sprache, die damals bei meiner Ankunft hier die Leute des Badekommandos gesprochen hatten; «Uwaga, uwaga!», worauf sich der polnische Kranke neben mir sogleich erregt in seinem Bett aufsetzte und uns alle anherrschte: «Tschicha bendsch! Teras polski kommunjiki!», und erst da fiel mir wieder ein, wie nervös er diesen ganzen Tag über gewesen war und wie er sich eins zusammengehaspelt und zusammengezappelt hatte; und dann, zu meiner größten Verblüffung, auf einmal: «Figyelem, figyelem! … Das ungarische Lagerkomitee …», und ich dachte: Nun, sieh an, das hätte ich auch nicht geglaubt, dass es so etwas gibt. Aber ich konnte noch so achtgeben, auch bei ihnen war, wie bei allen anderen vorher, nur von Freiheit die Rede und keine Andeutung, kein Wort von der noch ausstehenden Suppe. Auch ich war, natürlich, äußerst erfreut, dass wir frei waren, aber ich konnte halt nichts dafür, ich musste andererseits einfach denken: Gestern hätte so etwas zum Beispiel noch nicht vorkommen können. Draußen war der Aprilabend schon dunkel, auch Pjetka war wieder da, erhitzt, aufgewühlt, voll von unverständlichen Worten, als sich der Lagerälteste endlich über den Lautsprecher wieder meldete. Diesmal wandte er sich an die ehemaligen Mitglieder des Kartoffelschäler-Kommandos und bat sie, so freundlich zu sein und ihre alten Plätze in der Küche wieder einzunehmen, die anderen Bewohner des Lagers hingegen ersuchte er, wach zu bleiben, und wenn es sein müsse, bis Mitternacht, denn man sei im Begriff, sich an die Zubereitung einer kräftigen Gulaschsuppe zu machen: Da erst sank ich erleichtert auf mein Kissen zurück, da erst löste sich langsam etwas in mir, da erst dachte auch ich – wohl zum ersten Mal ernstlicher – an die Freiheit.

9
    Nach Hause kehrte ich ungefähr zu der gleichen Zeit zurück, wie ich fortgegangen war. Auf jeden Fall war der Wald ringsum schon längst grün, auch über den Leichengruben war Gras gesprossen, und der Asphalt des seit Anbruch der neuen Zeiten so vernachlässigten Appellplatzes, der mit den Resten erloschener Feuerstellen, mit

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