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Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Agejew
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Generäle und Militärintendanten profitierten davon. Andere sagten, der Krieg sei eine ehrenvolle Sache, es gäbe ohne Kriege auch Russland nicht, es gebe hier nichts zu jammern, schlagen müsse man sich. Dritte sagten, der Krieg, obwohl eine furchtbare Sache, sei zum jetzigen Zeitpunkt notwendig, und wenn ein Chirurg während einer Operation mit der Medizin zu hadern beginne, gebe es ihm noch lange nicht das Recht, die Operation nicht zu Ende zu bringen, zu gehen und den Kranken aufzugeben. Eine vierte Gruppe sagte, das sei alles völlig wahnsinnig, an einem Berliner Gymnasiumwürde der Klerus sich wohl kaum eine Rede wie die von Burkewitz anhören. Die fünfte Gruppe sagte, der Krieg sei uns zwar aufgedrängt worden und der Rang einer Großen Nation ließe es nicht zu, jetzt über Frieden zu sprechen, aber Burkewitz’ Gedanke sei doch richtig, daher müsse der Klerus auf der ganzen Welt, ausgehend von den universalen Prinzipien des Christentums und ohne Rücksicht auf die Gefahr, das Kriegsgesetz zu verletzen, protestieren und sich gegen die Fortsetzung des Krieges einsetzen.
    Gegen die letzte Meinung hatte Jag einen Einwand: «Ach, Jungs » , sagte er. «Ja, von welchen christlichen Prinzipien sprecht ihr denn? Wenn diesem Burkewitz diese christlichen Prinzipien so teuer wären, warum spricht er dann, erlaubt mir die Frage, drei Jahre lang kein Sterbenswörtchen mit uns? Drei Jahre, das muss man sich mal vorstellen. Was haben wir ihm denn Böses getan, wir haben doch nur gelacht? Sogar ein Pferd hätte gelacht, wenn es diesen Rotz gesehen hätte. Ich habe so einen Rotz, Gott sei mir gnädig, in meinem Leben nicht gesehen. Ja, warum belauert er, der große Christ, der Hurensohn, uns wie ein Wolf, der uns fressen will? Neiin, ihr Lieben, die Sache ist eine andere. Er braucht den Krieg, wenn man so sagen kann, wie die Luft zum Atmen. Er braucht nicht das Christentum, sondern den Verstoß dagegen, weil er, der Schuft, sich ausgedacht hat, einen Aufstand anzuzetteln. So ist das .»
    Ich stand etwas abseits und wägte ab: Wie hatte es geschehen können, dass Burkewitz, Stolz des Gymnasiums und bester Schüler, dem eine Goldmedaille 16 schon sicher war – wie hatte es geschehen können, dass dieser Burkewitz nun verloren war? Denn dass er verloren war, war offensichtlich, weil unten wahrscheinlich noch heute der pädagogische Rat zusammenkommen würde, oder sogar schon zusammensaß, und ihn natürlich einstimmig hinauswerfen würde, mit einem Wolfspass 17 . Und dann: Leb wohl, Universität. Und wie kränkend musste das für ihn sein, erst recht zehn Tage vor den Abschlussprüfungen. (Ich fühlte unentwegt, dass dem Menschen seine Enttäuschung umso bitterer schmeckt, je mehr er sich dem ihm plötzlich entgleitenden Endziel näherte – wobei ich sehr gut begriff, dass die Nähe zum Ziel es keineswegs erreichbarer machte, als es von einem beliebigen, bedeutend weiter von ihm entfernten Punkt aus war. Hier setzte bei mir die Abspaltung des Gefühls vom Verstand ein, der Praxis von der Theorie; das eine existierte nunmehr mit gleichem Recht neben dem anderen, und beide, Verstand und Gefühl, konnten weder eins werden, auch wenn sie Frieden geschlossen hatten, noch den anderen besiegen, wenn sie miteinander rangen.)
    Aber wie hatte mit Burkewitz etwas Derartiges geschehen können? Und was war es gewesen: vorsätzliche Berechnung oder ein Moment des Wahnsinns? Ich erinnerte mich an das herausfordernde Lächeln, mit dem Burkewitz die Worte des Vaters auf sich gelenkt hatte, und folgerte daraus: vorsätzliche Berechnung. Ich erinnerte mich an Burkewitz’ zitternden Kopf, seinen betrunkenen Gang, und änderte meine Meinung: ein Moment des Wahnsinns.
    Es drängte mich sehr, nach ihm zu sehen, und drei fein miteinander verflochtene Gefühle zogen mich zu Burkewitz hin: Das erste Gefühl war die gewaltige Neugierde, einen Menschen zu sehen, mit dem ein großes Unglück geschehen war; das zweite war das Gefühl der Verwegenheit, denn nur ich allein würde so handeln, schließlich kam niemand in der Klasse auch nur in Gedanken darauf, zu demjenigen zu gehen, der sich bereits mit der Pest angesteckt hatte; das dritte war ein Gefühl, das die Muskulatur des ersten und zweiten gleichsam erst formte: die Überzeugung, dass mir wegen der Annäherung oder sogar Unterhaltung mit Burkewitz keine Unannehmlichkeiten seitens der Schulleitung drohten. Laut Uhr blieben bis zum Ende der Pause noch zwei Minuten. Ich verließ den Klassenraum und

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