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Roman mit Kokain (German Edition)

Roman mit Kokain (German Edition)

Titel: Roman mit Kokain (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Agejew
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beten, dass der Bruder über den Bruder siege, dass der Bruder den Bruder unterwerfe, dass der Bruder den Bruder töte? Von welchem Feind sprechen Sie da? Es ist doch nicht etwa der, von dem Sie noch ein Jahr zuvor mit süßlicher Stimme verkündeten, dass man ihm verzeihen und ihn lieben müsse? Oder widerspricht ein solches Gebet von Eroberung, Gewalt, Mord und Vernichtung eines Menschen durch einen anderen Ihrem Verständnis von christlicher Tugend womöglich auch nicht? Kommen Sie zu sich, Sie armseliger Kirchenbeamter, der Sie verdummt sind und sich an den Tafeln des Volkes fettgefressen haben; kommen Sie zu sich und rechtfertigen Sie sich nicht damit, dass Ihre Brüder im Glauben, die dort auf den Feldern des Grauens ihr Leben riskieren, den Sterbenden die Kommunion spenden und den Verblutenden Frieden schenken. Rechtfertigen Sie sich nicht damit, denn so wie Ihnen ist es auch jenen wohlbekannt, dass Ihre Aufgabe, dass Ihre christliche Schuldigkeit nicht lautet, den Kranken, die schon ihr Leben aushauchen, sondern den Gesunden, die sich gerade zum Töten aufmachen, Frieden zu schenken. Machen Sie es nicht wie der Arzt, der syphilitische Geschwüre mit Goldcreme 15 behandelt, und versuchen Sie nicht, sich noch damit zu rechtfertigen, dass Sie diese schreckliche Sache aus Ergebenheit dem Monarchen oder der Regierung gegenüber durchgehen lassen, aus Liebe zum Vaterland oder zur sogenannten Russischen Waffe. Rechtfertigen Sie sich nicht, denn Sie wissen: Ihr Monarch ist Christus, Ihr Vaterland das Gewissen, Ihre Regierung das Evangelium, Ihre Waffe die Liebe. So kommen Sie zu sich und handeln Sie. Handeln Sie, denn jede Minute zählt, denn jede Minute, jede Sekunde schießen Menschen, töten Menschen, fallen Menschen. Kommen Sie zu sich und handeln Sie, denn die Leute, die Mütter, die Väter, die Kinder, die Brüder und alle, alle erwarten von Ihnen, gerade von Ihnen, dass Sie, Diener Christi, Ihr Leben furchtlos opfernd sich in diese Schande einmischen, sich zwischen die Wahnsinnigen stellen und laut rufen – laut, weil Sie zahlreich sind, Sie sind so zahlreich, dass Sie es in die ganze Welt hinausrufen können: ‹Leute, haltet ein, Leute, hört auf zu töten!› Das, und nur das ist Ihre Schuldigkeit.»
    Als ich sah, wie Burkewitz merkwürdig mit der Hand wedelte, wie er mit hängendem Kopf, schrecklich zitternd und taumelnd an uns vorbei und durch die Tür auf die Treppe hinausging, da hatte ich nur einen Gedanken : « Du bist erledigt, erledigt, ach, armer Waska.»
    Nur einen Augenblick später, ich hatte kurz weggeschaut, sah ich, wie das violette Gewand in einer schönen Windung den Rahmen streifte und durch die Tür entschwand.
    In dieser selben Sekunde, als alle zueinander stürzten und aufgeregt redeten und gestikulierten, da begann von unten ein dumpfes Getöse, wurde drohend lauter, als würde sich das Meer ins Haus ergießen, und stieg nach oben, die Fenster und Wände und Böden zitterten davon, und schließlich explodierte das dumpfe Getöse auf unserem Gang, mit einem ohrenbetäubenden Krachen der von den sechsten und siebten Klassen aufgerissenen Türen. Die Stunde war zu Ende.

9
    Um den beiden jüngeren Jahrgängen, die während der Pause den Gang füllten, die Einzelheiten dieses außerordentlichen Zwischenfalls nicht erzählen zu müssen, gingen wir alle in die Klasse.
    «Er ist ein Idiot, ein ausgemachter Idiot » , sagte Stein und legte seine weiße Hand auf Jags Schulter, was auf dem schwarzen Stoff aussah wie ein Klecks verschütteter Sahne.
    «Nein, Stein, mein Guter, misch dich nicht ein .» Jag trat von ihm zurück. «Du bist, könnte man sagen, Europäer, aber hier, mein Guter, sind wir in Asien. Versteh doch: Der Talmud wird nicht falsch ausgelegt, es steht dir also nicht zu, dich aufzuregen .»
    Jag wartete ab, bis Stein gekränkt zu seiner Bank gegangen war, und wandte sich mit gedämpfter Stimme an die erregte Gruppe, die sich am Fenster versammelt hatte: «Man muss sich schon wundern » , sagte Jag, «wie unsere kleinen Juden für den Klerus schwärmen: Fass – Gott bewahre! – ja den Popen nicht an, sonst machen die Itzige einen Aufstand .»
    «So eine Züfall. » Takadzschijew wackelte mit dem Kopf, aber niemand lachte. Die Gruppe tauschte hitzig ihre Meinungen aus. Allerdings ließ niemand den anderen ausreden, man unterbrach sich aufgeregt, wetteiferte, widersprach einander. Die einen sagten, Burkewitz habe recht, niemand brauche den Krieg, er sei zerstörerisch, und nur

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