Roman mit Kokain (German Edition)
arbeiten; wenn uns aber das Gleiche, ein Abbild des Lebens um uns herum, im Theater gezeigt wird, erregen wir uns, erzürnen und verrohen? Ist es nicht seltsam, dass ein und dieselbe Szene, die sich vor den Augen ein und desselben Menschen abspielt, ihn im einen Fall (im Leben) kalt und gleichgültig lässt, während sie im anderen Fall (im Theater) in ihm Empörung, Ärger und Wut hervorruft? Und beweist dies nicht anschaulich, dass wir den Grund für bestimmte Gefühle, mit denen wir auf ein äußeres Ereignis reagieren, keineswegs in der Natur des jeweiligen Ereignisses, sondern einzig und allein in der Beschaffenheit unserer Seele suchen müssen ? Diese Frage ist von außerordentlicher Bedeutung und verdient eine detaillierte Antwort.
Die Sache ist offensichtlich folgende: Im Leben sind wir niederträchtig und heuchlerisch, sorgen uns in erster Linie um unser persönliches Wohlergehen, weshalb wir im Leben eben jenen Gewalttätern und Bösewichten schmeicheln und helfen, deren Taten im Theater eine so schreckliche Empörung bei uns auslösen – und mitunter sogar selbst zu ihresgleichen werden. Im Theater dagegen kann dieses persönliche Interesse, dieses erbärmliche Trachten nach Erdengütern von unseren Seelen abfallen; im Theater zwingt uns nichts Persönliches zu noblen, aufrichtigen Gefühlen; im Theater werden wir seelisch reiner und besser , und deshalb werden wir, solange wir im Theater sitzen, in unserem Bestreben und unseren Sympathien gänzlich von unseren edelsten Gefühlen geleitet: von Gerechtigkeitsgefühl, hochherziger Gesinnung und Menschlichkeit. An dieser Stelle drängt sich uns ein schrecklicher Gedanke auf. Es drängt sich der Gedanke auf, dass wir uns im Leben nur deshalb nicht erregen, entrüsten oder auflehnen, dass wir nur deshalb nicht völlig verrohen und nicht im Namen der mit Füßen getretenen Gerechtigkeit töten, weil wir niederträchtig sind, verdorben, habsüchtig und einfach böse; würden wir dagegen im Leben – so wie im Theater – die menschlichsten Gefühle in uns anheizen, würden wir im Leben gut werden, dann würden wir – von Gerechtigkeitsgefühl und Liebe zu den Gedemütigten und Schwachen durchdrungen, gar innerlich erschüttert – so viele Gräueltaten, Massaker, Folterungen und Vergeltungsmorde begehen oder zu begehen wünschen (was hier ganz gleich ist, da wir über Gemütsbewegungen sprechen), wie sie noch kein Bösewicht, nicht einmal der grausamste, auf der Suche nach Profit und Bereicherung begangen, ja nicht einmal zu begehen beabsichtigt hat.
Und unwillkürlich kommt in uns der Wunsch auf, sich an alle zukünftigen Propheten zu wenden mit den Worten: «Ihr lieben, guten Propheten! Bitte rührt uns nicht an, bitte heizt unsere Seelen nicht an mit erhabenen, in höchstem Grade menschlichen Gefühlen und versucht schlechtweg nicht, uns besser zu machen. Ihr seht ja: Solange wir böse sind, begnügen wir uns mit kleinen Niederträchtigkeiten; werden wir aber gut , töten wir.
Begreift doch, liebe Propheten, dass es gerade die in unseren Seelen angelegten Gefühle der Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind, die uns dazu zwingen , uns zu erregen, zu entrüsten und zu erzürnen. Begreift, dass wir uns nicht im Geringsten entrüsten oder erregen würden, wenn man uns der Menschlichkeit beraubte . Begreift, dass es nicht Heimtücke, Hinterlist oder Niederträchtigkeit des Verstandes sind, die uns dazu bringen , uns zu entrüsten, zu erregen, zu erzürnen oder außer uns zu geraten – sondern allein Menschlichkeit , Gerechtigkeit und Edelmut der Seele . Begreift, ihr Propheten, dass unsere menschliche Seele nach dem Prinzip der Schaukel funktioniert, die, wenn sie hoch in Richtung Edelmut des Herzens ausschwingt, auch hoch zurückschwingt zur Raserei der Bestie .»
Das Streben der Menschen, die seelische Schaukel hoch in Richtung Menschlichkeit fliegen zu lassen, worauf unvermeidlich der Schwung zurück in Richtung Bestialität folgt – dieses Streben zieht sich als wundersame und zugleich blutige Spur durch die Geschichte der Menschheit, und wir sehen, dass uns gerade jene besonders bewegten Epochen, die sich von den anderen abheben durch außergewöhnliche, in die Tat umgesetzte Höhenflüge an Geist und Gerechtigkeit , besonders schrecklich erscheinen, weil sie durchsetzt sind von beispielloser Grausamkeit und geradezu dämonischen Verbrechen. Ähnlich einem Bär, der mit blutigem,zerschlagenem Schädel gegen einen an einem Seil hängenden Baumstamm
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