Roman unserer Kindheit
den Kerl am Arm. Der lässt sich, obwohl die Augen noch eine ruckartige Fluchtbewegung machen, widerstandslos am Ärmel halten. Das ist die Chance, die leidige Musikantensache auf morgen zu vertagen. Er gibt dem Eingefangenen in väterlich barschemTon den guten Rat, ihn freiwillig zur Aufnahme seiner Aussage nach Oberhausen zu begleiten.
Die beiden, der Ordnungshüter und sein Missetäter, haben es nicht weit zu Fuß. Das Polizeiauto steht vor der Metzgerei, wo sich sein Fahrer vorhin noch zwei schöne Semmeln, eine mit Fleischsalat, eine mit Leberwurst und saurer Gurke, hat fertigmachen lassen. Auf dem Weg dorthin gibt unser Wachtmeister den Arm des Huhlenhäuslers wieder frei, damit es hier vor den Frauen und den Kindern der Neuen Siedlung nicht wie eine Verhaftung aussieht oder gar wie auf frischer Tat ertappt. So geht es, respektvoll grüßend, an Doktor Junghanns vorüber. Mit einem schnellen Blick zum Musikanten wird sogar noch festgestellt, dass dieser kein Gefäß für Münzen vor sich stehen hat. Auch ist kein Pappkarton zu sehen, auf dem mit den üblichen Worten um eine Spende gebeten würde.
Kommandant Silber sieht dies alles. Kommandant Silber späht durch blankgeputzte Gläser, guckt durch ein besonderes bruch- und hitzefestes Brillenglas. Kommandant Silber sieht den Polizisten und den Burschen, den er abführt. Vorsichtshalber nimmt er mit der Linken, der Handgashebel sitzt am Zweidrittelkreis des Lenkers, noch einmal Tempo weg und schaltet schließlich in den Leerlauf, um maximal langsam auf die beiden zuzutuckern. Alles klappt wie geschmiert, alles ist seinen Fingern wohlvertraut. Er steuert das Invalidenfahrzeug zweifellos nicht zum ersten Mal, obwohl ihm das Vehikel vorhin in der Kellergarage mit seinen schmalen Speichenrädern, mit seinem bootsförmigen Bug und dem zurückgeklappten Faltdach absolut fremd, ganz höllisch unbekannt und zugleich reichlich komisch vorkam. Aber kaum hatte er die Hand am offenen Lenkrad, kaum rückte Nichtchenan seine Seite und klopfte ihm ermutigend aufs Knie, wurde alles, das Starten, das Beschleunigen und Bremsen, das schnurgerade Rollen wie das flotte Kurven, zu einem wohlbekannten und dennoch erneut unbändig an- und abschwellenden Vergnügen. Dem Zweitaktmotörchen fehlt es nicht an Durchzugskraft. Die Karre ist ein rechter Leichtbau. Er selber hat im Sog der Jahre schleichend an Gewicht verloren. Und Nichtchen ist und bleibt ein feenhaftes Wesen, fast musste man bei Höchstgeschwindigkeit befürchten, der Fahrtwind, der über die niedrige Windschutzscheibe pfiff, könne sie wie eine Feder von der Sitzbank heben. Droht jetzt Kontrolle durch die Polizei? Besitzt Kommandant Silber die nötigen Papiere? Hängt hinten am runden Heck ein Nummernschild? Und hat er, bevor er mit Nichtchen auf diese Spritztour ging, auch nachgesehen, ob der Versehrtenrenner rundum verkehrsgerecht ausgerüstet ist, mit Licht und aufflammendem Blinker und all dem Pipapo, das es braucht, um unbehelligt an einem heutigen Wachtmeister vorbeizukommen?
Der Polizist der Siedlung wundert sich allein über die Brille. Der Chauffeur des einsitzigen Fahrzeugs trägt eine Art Motorradbrille, aber der Aufwand, der mit Leder, Gummi und Glas getrieben worden ist, lässt sie zu wuchtig, zu imposant erscheinen. Erst als die Karre an ihm vorbei ist, begreift er, dass er zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder eine original Panzerfahrerbrille vor Augen hatte. Er dreht sich um. Eben rollt das Fahrzeug vor der Lücke aus, wo weiterhin der Musiker am Tönen ist. Herr Doktor Junghanns wirft, bevor er Richtung Sparkasse davonspaziert, noch einen langen Blick auf den Insassen des kleinen Autos, vielleicht weil auch ihm, dem einstigen Offizier, die Brille auffällt. Der helle Ton des Zweitakters verstummt. Der Hund des Blinden ist aufgestandenund tapst über den Gehweg. Er schnuppert am Blech. Die Klappe schwingt auf. Der Fahrer verfügt zur Überraschung des Polizisten noch über beide Beine. Gleichzeitig schwenken sie ins Freie und schlagen mit den Absätzen übertrieben hart auf den Asphalt. Schon steht der rüstige Invalide auf dem Trottoir und tätschelt den Nacken der großen weißen Schäferhündin. Und auch der Blinde hat sich erhoben. Ohne sein Instrument tritt er aus seiner Nische und streckt dem Panzerbrillenträger die Rechte hin. Und es bleibt nicht bei einem männlich distanzierten Handschlag. Alle vier Hände finden aufeinander, schon liegen sich die Veteranen in den Armen, klopfen sich auf die
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