Roman unserer Kindheit
in meiner glubschäugigen Allsicht könnte ihn in diesem Moment beneiden. Wie recht er, sehend und deutend, wieder einmal hat. Was dort in meinem See an einem vollgesogenen Baumwollrechteck hängt und sich im kalten Wasser wellt, ist in der Tat ein Klebeband. Es handelt sich um das bekannte, nur in Apotheken und in guten Drogerien, also auch bei Herrn Schümer, erhältliche Band, das alle Mütter der Neuen Siedlung wegen seiner prima Haftung so gern benutzen. Mit einem satten Ritsch ziehen sie es von seiner Spule aus rotlackiertem Blech und schneiden mit der Schere kleinfingerlange Stücke ab, die den Verbandsmull über den Schürfwunden ihrer Kinder, meist sind es großflächig aufgeschlagene Knie oder Ellenbogen, sicher an Ort und Stelle halten.
Auch Achim hat seit seinem letzten Sturz ein schlecht verschorftes, ein eitrig nässendes Knie zu bieten. Achim, unser Weißling auf der Flucht, ist ohne jedes Ziel, bloß mit dem Willen, Abstand zu diesen drei komisch einverständigen Großen zu erringen, bis ans Ende des Spielplatzes geradelt und hat dort, auf der letzten Wiese, vier ihm unbekannte, offenbar neuzugezogene Buben beim Fußballspielen entdeckt. Also dreht er eine weite Runde, dann eine zweite und sogar eine dritte, setzt sich schließlich auf eine Bank, um sich in Ruhe vorzustellen, wie viel Spaß er gleich mit diesen Kerlchen haben wird. Er will den Ältesten der Neuen, einen erstaunlich dicken Jungen, exemplarisch in die Mangel nehmen. Erst will er ihn vor seinen Freunden mit schweinischen Schimpfwörtern beleidigen und ihn mit Schubsern, mit Nasenstübern und Ohrverdrehern so lang erniedrigen, bis ihm die Tränen auf die Backen kullern. Dann ist der rechte Augenblick gekommen, den Fettsack zu Boden zu schmeißen, sich auf seine Brust zu setzen, ihn nicht nur gründlich anzuspucken,sondern auch anzurotzen, was die Nase hergibt. Dazu werden die Oberarme des ins Gras Gepressten mit den Knien gründlich durchgewalkt, bevor man ihn abschließend, einen Daumen auf seinem Auge, noch zwingt, Gras und Klee und Huflattich zu verspeisen und auch die ganz besondere, immer neu erstaunende Bitternis des Löwenzahns zu kosten.
Die Hände gegen das warme Holz der Bank gepresst, bemerkt Achim plötzlich, wie süß es ist, sich so etwas im Voraus auszumalen. Eigentlich hat er dergleichen noch nie in solch langsamer Ausführlichkeit gemacht. Dass er jetzt eine derart tolle Vorfreude genießen darf, hängt irgendwie damit zusammen, dass er es gerade, viel länger als gedacht, mit den drei Erwachsenen unter der Nagelbuche ausgehalten hat. An diese seltsame Verbindung mag er allerdings lieber nicht genauer denken, also schwingt er sich auf den Roten Peter, um mit den fremden Kindern Ernst zu machen. Die haben natürlich mitgekriegt, wie er sich auf die Bank gelümmelt und ihnen lauernd zugesehen hat. Das Unheil spürend, haben sie schon die ganze Zeit bloß noch zum Schein gegen den Ball getreten, und jetzt verstehen sie sofort, warum er zu ihnen herüberkommt.
Als er jedoch, den Lenker fest gepackt, über die bucklige Wiese rollt und die von schlimmer Ahnung Gelähmten nur noch mit kraftlos herabhängenden Armen dastehen, stiebt aus den Büschen vis-à-vis, aus den Büschen Richtung Bärenkeller, eine ungeheure Wolke kleiner Vögel auf. Achim begreift erschrocken, dass es viel zu viele sind. So viele kleine Vögel sitzen normalerweise niemals beieinander – zumindest an keinem guten Ort der Welt. Er weiß sogleich, was das bedeutet. Es ist also so weit! Ganz ohne Zweifel sinddies die Geister aller Vögel, deren Eier er, seine Brüder, seine Cousins und vor ihnen schon ihre Väter, als die fernab der Neuen Siedlung, herumziehend wie die Zigeuner, selber noch Buben waren, aus Nestern gestohlen, leer geschlürft oder aus purem Spaß zerschlagen haben. Die Prophezeiung ist eingetroffen. Der Kikki-Mann hat damals, als er eine Woche lang betrunken war, weil ihn seine Frau verlassen hatte, lallend vorhergesagt, dass alle durch Huhlenhäusler-Schuld nicht fertig gewordenen, alle allein in den Köpfchen ihrer Vogeleltern vorgestellten Küken eines Tages als fixundfertig böse Vögel wiederkehren würden. Achim dreht ab! Er fährt die engste Kurve seines Lebens. Er steht in den Pedalen, und erst, als er wieder Kies unter den Reifen hat, guckt er nochmal zurück und sieht die Vogelwolke vor dem erblassten Himmel. Der Racheschwarm scheint Richtung Bärenkeller, in Richtung der hohen Kastanien abzudrehen. Aber das nimmt unserem Achim
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