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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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feiner Streifen aus grauem Staub gebildet hat. Zuletzt nimmt sie den Neuzugang, den großen, knochenbleichen Bären, vom Regal. Dass er nahezu direkt aus der Wundertüte hierhergekommen ist, aus den Bruchstückchen der gefärbten Puffreiskörner,die sie ihren Söhnen stets zu essen verboten hat, erklärt, weshalb ihm noch etwas Rötliches im Maul klebt. Die Mutter wischt drüber, aber das Rot will nicht abgehen. Sie sieht genauer hin. Da hängt gar nichts. Der monochrome Bär, aus weißem Plastikbrei gegossen, ist just an dieser Stelle anders eingefärbt. Und jetzt, nachdem ein Tuchzipfel zwischen die winzigen, erstaunlich spitzen Zähne gefahren ist, leuchten Rachen und Zunge so frisch und hell, als wäre Rot ihre natur- oder kunstgegebene Farbe oder als hätte das Gebiss des räuberischen Allesfressers erst vorhin etwas heftig Blutendes zerfetzt.
    Die Kinder müssen unterdessen kriechen. Und dies bedeutet eine elende Quälerei, denn den Grund der Röhre bildet festgestampfter Sand, aus dem sich scharfkantige Ziegelbrocken und -splitter in die nackten Knie der Freunde bohren. Der Ältere Bruder hat sie humpelnd angeführt, solange sie gebückt, nur ab und zu die Finger auf den Boden tippend, vorwärtskamen. Als es dann endgültig auf alle viere ging, hat er, um seinem schmerzenden Fuß ein Päuschen zu gönnen, die anderen vorbeigewunken. Zum Glück bleibt der beklemmend niedrig gewordene Gang breit genug, dass zumindest ihre beiden Kleinen, die Zwillinge, weiterhin nebeneinander krabbeln können. Als Schlusslicht hat unser großer Bruder nun zunehmend Mühe, den anderen nachzukommen; denn an der Spitze legt der Wolfskopf ein tolles Tempo vor. Unter einem der kleinen Gitter, durch die in festen Abständen ein wenig Licht in ihren Kriechgang fällt, muss er, weil ein schlimmer Krampf die Zehen seines wehen Fußes spreizt, erneut verharren.
    Er schaut Sybille nach, deren Sandalensohlen und deren hin- und herpendelnder Schlüpfer ihm sagen, wie schnurgeradees da vorne weitergeht, er überlegt, ob er den anderen hinterherschreien soll, sie möchten bitte ein wenig auf ihn warten, da hört er, unvermutet und doch wie zu seinem Trost, den Neger reden. Er hört den Spiegelneger Wort auf Wort und Satz auf Satz. Er hört ihn nicht nur erzählen, sondern auch schlürfen und schmatzen und dabei ungeniert weiter seine Sprache sprechen. Obwohl es in den Kasernen hinter dem Gaswerk tausendundeinen Ami gibt, obwohl es da oben, über dem Gitter, auch bloß aus einem Radio Amerikanisch tönen könnte, ist er sich sicher, dort schwatzt der Schwarze, der eine Zeitlang zur Mutter des Ami-Michi kam. Genauso warm und butterweich, in schnellem Wechsel hell und tiefkehlig, so wunderbar undeutsch, wie es jetzt nach unten in den Kriechgang klingt, hat der Ami-Michi für seine Freunde, weil die es komisch und zugleich ein bisschen schaurig fanden, immer wieder den Singsang des Spiegelnegers, vor allem dessen freundliches Fragen und Schmeicheln, aber gelegentlich auch dessen wutentbrannte letzte Rede nachgemacht. Wahrscheinlich ist ihm die Nachahmung nur so perfekt gelungen, weil er kein Wort verstand und sich ganz in die Farben des Klangs und in den Wellengang der Sätze versenken konnte.
    Da oben, hinter dem Gitter, am Ende des Lichtschachts scheint es für den schwarzen Mann keinerlei Grund zu Ärger oder gar Zorn zu geben. Im Gegenteil, es schmeckt ihm derart gut, dass er jetzt rülpst und dann darüber einen Scherz auf Amerikanisch macht. Auf diesen Witz hin hört unser großer Bruder ganz zart und leise eine zweite Stimme lachen. Es ist die Stimme eines kleinen Mädchens. Den Spiegelneger muss dieser Beifall freuen, denn es klingt wie das Lachen eines richtig lieben und zugleich klugen Kinds, ganz anders alsdas stets wehleidig grundierte Gicksen von Sybilles kleiner Schwester, ganz anders als das schrille Kichern des dummen Fröhlich-Mädchens. Aber es ist auch anders schön als das Glucksen der Schicken Sybille, das diesen Sommer irgendwie voller, fast geheimnisvoll geworden ist, wahrscheinlich, weil sie begonnen hat, sich mit Haut und Haar und Stimme in etwas Neues zu verwandeln, in eine andere Art von Mädchen, für die ihm leider das rechte Wort fehlt, während es in der Sprache des Spiegelnegers bestimmt eine passende Bezeichnung gibt, ein Wort, das sich an seiner Sache festsaugt wie ein Egel. Der Ältere Bruder lauscht nach oben und überlegt, welche Mädchen ihm lieber sind. Genau so, wie es von da oben herunterlacht, denkt er

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