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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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niemals mit Honig oder Speichel eingestrichen. Mit keinem Öl der Außenwelt wird mir der Fuß gesalbt. Aber zum Ausgleich bin ich bei jedem inwendigen Zwicken, beim Rumoren und Grummeln der lieben, der allerliebsten Eingeweide mit dabei. Der Nachmittag ist schwül geworden. Die Mutter stemmt den Kinderwagen mit dem Älteren Bruder den Hang hinauf. Der schweigt, zerbricht sich immer noch den Kopf über die quälend segensreiche Arbeit der Termiten, und ich flüstere ihm erneut vergeblich zu, dass er nicht weiter nachzudenkenbraucht. Der Witz, der öde, schmerzenssatte Erwachsenenscherz, ist restlos durchschaut. Es lohnt sich kaum, die dürftige Wildwest-Geschichte an die Zwillinge weiterzuerzählen. Selbst die beiden kleinen Meister werden sie mit all ihrer Kunst nicht wesentlich verbessern können. Ich weiß, dass unser großer Bruder es dennoch tun wird. Jetzt aber soll ihn mir das Wetter zumindest aus dieser Grübelschleife retten. Der grau und bläulich marmorierte Gewitterhimmel ist mir zu Willen und sackt noch etwas tiefer auf die Stahlkessel des Gaswerks herab. Der höchste der drei Speicher ragt dem Brüten volle neunundachtzig Meter hoch entgegen. Kein Schornstein der städtischen Industrie und auch kein Turm der beiden imposanten Bischofskirchen in der Altstadt kommt den schwarzgewordenen Wolkenbäuchen näher.
    Die Mutter müht sich mit dem Schieben. Der Kiesweg, der in die Gaswerkstraße mündet, wurde erst gestern neu bestreut, ist aber noch nicht festgewalzt. Das hat sie beim Hinunterrollen wohl bemerkt. Bergab bedeutete der Widerstand des lockeren Belags kein Problem, jetzt jedoch stauen sich die Steinchen vor den kleinen Rädern. Damit ist unwiderlegbar klar, dass es eine rechte Schnapsidee gewesen ist, auch den Rückweg zu Fuß anzutreten. Die richtige Bescheinigung steckt in ihrer Handtasche, und die kleine dicke Ordensschwester, die sich mit Krankenkassenkram auskennt, hat ihr versichert, man müsse ihr auch für heute das Taxigeld erstatten. Aber die Mutter hat noch die schnöselige Stimme des Sachbearbeiters im Ohr. Schon morgen, wenn sie wegen einer anderen Sache in die Stadt muss, will sie dem Kerl den Wisch auf den Schreibtisch knallen und ihm dann ein schrecklich schlechtes Gewissen machen, weil er eine Frau in ihrem Zustand zu diesem Schiebemarathon gezwungenhat. Ich spüre, wie schön sie sich das vorstellt. Aber ich weiß auch, dass ihr prächtiger Beschämungsplan nicht klappen kann, weil sie zu stolz sein wird, damit herauszurücken, um welchen Zustand es sich handelt.
    Der Himmel hebt an zu blitzen und zu krachen, wie es sich gehört. Das Gaswerk liebt Gewitter. Geduckt an den Rand der alten Vorstadt, bläht es sich, langsam und selbstgewiss wie eine große Kröte, zu seiner vollen Schönheit auf und wölbt sich Ziegel über Ziegel, Stahl über Stahl aus seinem weitläufigen Gelände. Die Kohle, die im Freien angehäuft ist, giert schon darauf zu glänzen. Die Mutter zieht den Damenklappschirm aus dem Etui und spannt ihn auf. Der Ältere Bruder wird das gerippte Nylondach den ganzen langen Rest des Wegs, im prasselnden Regen, im böig auffrischenden Wind, so gut es geht, mit beiden Händen auf Fuß und Schienbein pressen. Und als sie klitschenass und beide so seltsam lustig, dass die Zwillinge darüber staunen, zu Hause angekommen sind, ist der Verband nur oberhalb des Knies, wo es wirklich nichts ausmacht, ein kleines bisschen feucht geworden.

Regentag
    Es regnet und regnet. Aber selbst, wenn es endlos regnen würde, könnte unsere weitherzige Mutter nicht alle Kinder lieben. Ein Dutzend mehr oder minder süßer Gören gibt es allein hier im dritten Aufgang. Jeweils zehn gehören in den zweiten und in den ersten des grünen Blocks. Und auch der vordere Wohnblock des Hofs bringt es auf dreißig Kinder. Wenn die Sonne scheint, drängeln sich im Betonquadrat des Sandkastens die wühlenden, die häufelnden, die Förmchen vollklopfenden Kleinen. Die Mädchen im Puppenalter haben dann ihre Decken unter der Robinie oder unter der Eberesche ausgebreitet, weil dies die größten Bäume des Hofs sind und durch ihr lichtes feinfingriges Laub den besten Schatten für die Trance des Mutter-Kind-Spiels spenden. Die Jungen und die wilderen Mädchen, die Bubenmädchen, turnen an den Wäschestangen oder unterwerfen sich den Regeln der sechs Ballspiele, die man in der Neuen Siedlung kennt. Elf große Bälle kommen zwischen dem gelben und dem grünen Block zum Einsatz. Acht sind aus Plastik, und jeder

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