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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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irgendeinem Polstermöbel, mit einem Sessel oder einer Couch zu tun. Ich glaube, das vermaledeite Ding ist rot.»
    Unterdes begann es im Doppelstockbett der Zwillinge zu seufzen. Der Mann ohne Gesicht reichte ihm schnell noch ein knisterndes Tütchen. Obwohl es nicht aufgerissen war,konnte unser großer Bruder, im Nachtlicht scharfsinnig geworden, riechen, was es enthielt. Ich roch es auch. Und als er dann, den Kopf wieder auf dem Kissen, die erste Handvoll kaute, duftete es aus seinem Mund so stark ins Zimmer, dass auch seine Brüder vollends erwachten. Ihre hellen Stimmen fragten, was er da esse. Beide stiegen aus den Betten und setzten sich zu ihm. Weil er wollte, dass sie Ruhe gaben, weil er ungestört denken, kauen, schlucken und weiterdenken wollte, weil er auf jeden Fall verhindern musste, dass sie ihm den Witz erzählten, der eben noch als Traum von Kopf zu Kopf geflossen war, stopfte er einfach jedem eine Handvoll Gummibärchen in den Mund.
    Der Vater ist auf dem Weg. Auch unser Vater kommt dem Bärenkeller näher. Kaum dem Josephinium entronnen, hat er sich eine Zigarette angesteckt. Und jetzt, wo es auf die Unterführung zugeht, den kleinen Tunnel unter den Gleisen, die den westlichen Rand von Oberhausen markieren, führt er schon die zweite an den Mund. Natürlich weiß er, dass ihm, dem Nichtraucher, die starken Dinger schlecht bekommen, wenn er eine nach der anderen so scharf und nervös auf Lunge raucht. Bereits von der vorigen ist ihm ein bisschen schwindlig geworden, trotzdem muss er die gegenwärtige noch tiefer inhalieren. Ihm ist, als wäre im Mief der letzten Stunden, im Grübeldunst des Affentanzes oder im Jodgeruch des Krankenhauses, etwas gewesen, das sich in seinen Bronchien eingenistet hat und nun mit Tabak ausgeräuchert werden muss.
    Die Unterführung ist alt und eng. Damit die neuen Gelenkbusse, die seinen Großen ab Herbst ins Gymnasium karren sollen, ihr extralanges Blech unter den Bahndamm fädeln können, hat man einen der Gehsteige entfernt undden anderen auf ein Drittel seiner ursprünglichen Breite zurückgebaut. Wer jetzt zu Fuß durch muss, dem wird die Unterführung zu einer üblen Röhre, gerade lang genug, um sich neben einem Bus oder LKW verraten und verkauft zu fühlen. Der Vater hat Pech. Genau auf halbem Weg, eben als er die Kippe auf die Fahrbahn schnipst, kommen von hinten die Amerikaner. Er denkt ganz kurz, das Wummern wäre nur in seinem Kopf, weil ihm nun endgültig übel von den widerlichen Zigaretten ist, aber da drückt ihn schon die Luft, die der erste der gewaltigen Army-Laster vor sich herschiebt, an die Tunnelmauer. So hält er aus, wie sie in dichter Folge angedonnert kommen. Er sieht die Weißen und die Neger hinter den niedrigen, von einem Steg geteilten Windschutzscheiben, alle tragen sie Helme auf dem Kopf, alle sind mit verbissen angespannten Mienen, als ginge es in ein Gefecht, über die riesigen Lenkräder gekrümmt, und alle fahren wie die Henker. Die Felgen der Räder schrammen funkenstiebend an den Granit der Bordsteinplatten, die den erhöhten Gehsteig von der Fahrbahn trennen.
    Der Vater lehnt an der Wand, die Packung, aus der er eben in frisch erworbenem Automatismus einen weiteren Glimmstängel zupfen wollte, ist ihm aus der Hand gefallen. Der Luftzug reißt sie auf die Fahrbahn. Dort wirbelt sie zwischen den grobstolligen Reifen und schafft es mit einem Glück, wie es vielleicht nur tote Dinge haben dürfen, nicht platt gewalzt zu werden. Die Unterführung ist voll Dieselqualm. Der Vater presst die Lider aufeinander. Aber die Zigarettenpackung geht nicht weg. Jetzt schwimmt sie, wippt auf blauem Wasser. Ist das der Krieg? Weil er zum ersten Mal seit zwei Jahrzehnten wieder einen Hauch von Todesangst verspürt, denkt unser Vater nun, er träume am helllichten Nachmittag vomKrieg. Die frisch verheilte Hand auf den geschlossenen Augen, bildet er sich ein, was er da sieht, wäre das Wasser des Mittelmeers, das ihm die Knie umspült und das ein Zigarettenpäckchen schwimmen macht. Er denkt tatsächlich, er stünde jetzt als junger Soldat bis an die Oberschenkel im Salzwasser der Ägäis, obwohl das Bildchen auf der Packung weiterhin nicht dazu passen mag.
    Ich denke mit. Ich helfe ihm ein bisschen auf die Sprünge! Mit Wasser kenne ich mich aus, besser noch als dieser ehemalige Gefreite der Marine. Patsch! Patsch! Der Feind kommt angestapft. Das Wasser spritzt, weil er es eilig hat. Die sommerlich laue Brühe spritzt dem Angreifer und unserem

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