Roman unserer Kindheit
aufleuchtenden Fleck zwischen den weit vorstehenden Kapuzenkanten auf sich haben könnte. Sybille aber, die die ganze Zeit die kurzsichtigen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen hat, erträgt das verschwommene Bild nicht länger. Sie springt auf, lässt Waschküchen- und Kellertür gegen ihre Rahmen knallen, ihre Sandalen patschen die nasse Treppe hoch, und schon sehen die anderen sie über den Wiesenstreifen zum rosa Block hinüberrennen.
Dort steht sie nur noch da. Die Beine gespreizt, die Fußspitzen nach innen eingedreht, so, wie sie sich auch hinstellt, wenn die Jungen beim Fußballspielen noch einen Torwart brauchen und sie zum Mittun überredet haben. Dann macht sie zwischen zwei in die Wiese gerammten Stöcken den letzten Mann. Und sie hält besser als jedes andere Mädchen, auch besser als der tollpatschige Fröhlich-Junge, schmeißt sich sogar dem immer mit Gebrüll heranstürmenden Wolfskopf wacker vor Ball und Beine. Jetzt klebt ihr der Rock milchigdurchsichtig auf den dicken Knien. Und der Kapuzenkerl, der, eine Nachttischlampe in der Faust, auf die Schwelle des Bauwagens tritt, den er ein halbes Dutzend Jahre seine neue Heimat nennen durfte, sieht, wie der Schicken Sybille unseres Sommers die Pony-Fransen als glatte Kringel in die Stirn gedreht sind, wie ihr das Wasser durch die Augenbrauen in die langen Wimpern perlt.
Mein Haus ist ohne Fenster. Aber meine Geschwister und alle, die es ernst, also von Herzen gut oder von Herzen schlimm mit ihnen meinen, halten draußen für mich Ausschau. Gehorsam füge ich mich in die Grenzen des von ihren Blicken ausgemessenen Territoriums. Tagraum auf Tagraum rundet sich mein Panorama. Am ersten endlich gnadenlos heißen Sonnentag dieses Sommers hatten die Zwillinge die Mutter mit der bisher längsten ihrer Entdeckungsfahrten in Angst und Sorge versetzt und stundenlang in Sorge und Angst gehalten. Auf eigene Faust, ohne irgendeinem im Hof zu sagen, wohin es gehen sollte, waren sie am frühen Vormittag aufgebrochen und mit ihren kleinen Fahrrädern so weit wie noch nie hinaus, hinaus aus der Siedlung, durch zwei der angrenzenden Dörfer und tief in die westlichen Wälder hineingestrampelt.
Es war schon finster, als ihre lampenlosen Vehikel schließlich wieder in das Oval des Hofwegs bogen. Die Mutter und Frau Böhm saßen wartend auf der mittleren der drei Bänke. Annabett Böhm hatte gerade in einem letzten, hilflos verkünstelten Anlauf noch einmal versucht, ihre bangende Nachbarin zu beruhigen, obschon sie selbst, wären ihre Töchter auch nur halb so lang unerklärt ausgeblieben, per Telefon die Polizeistation in Oberhausen verständigt hätte. Die kleinen,dicken Reifen standen still. Die Zwillinge rutschten von den auch im Dunkeln speckig glänzenden Sätteln. Waden und Handgelenke taten ihnen weh und würden am nächsten Tag noch ärger schmerzen. Sie litten schrecklich Durst, brachten keinen Ton aus ihren ausgedörrten Kehlen und waren dennoch gleich allen, die von einer großen Fahrt heimkehren, hoch gestimmt. Die Mutter sah, wie erschöpft sie sich auf die Lenker stützten, sah aber auch das Leuchten in ihren Augen. Glücklich erleichtert, hielt sie ihnen vor, dass sie volle elf Stunden, fast eine ganze Runde des Stundenzeigers auf der Küchenuhr, verschwunden gewesen seien. Und dann strich sie den beiden nacheinander, den Vorwurf lachend wiederholend, lange über die blonden Locken, als müsse sie sich hier im nächtlichen Hof mit dem Tastsinn versichern, dass ihre beiden Kleinen heil geblieben waren.
Sie ahnte nicht, wie weit es die beiden Kundschafter wirklich hinausgetrieben hatte. Mitten im Wald, nach über einer Stunde grüngetönter Schattenfahrt, nach immer mühevoller werdendem Geschlängel in den Fahrrinnen der Forstfahrzeuge, hatten sie vor einem neuen Anstieg angehalten, stumm überlegt und sich nach einem doppelten Räuspern stumm entschieden, kehrtzumachen. Hätten sie ihre Räder noch diesen letzten Hügel hinaufgestemmt, hätten sie oben todsicher den schmalen Seitenweg entdeckt, der unter dicken, seit Jahren nicht mehr aufgewühlten Nadelpolstern in eine lichte Mischwaldschonung bog. Es wären jene jungen Tannen, Eichen und Buchen gewesen, die damals den Wagen umstanden, der heute Morgen aus seinen Standmulden gerissen worden ist. «Hab alles draußen, Schorsch!», hören die Zwillinge und alle anderen in der Waschküche Gebliebenen den Kapuzenmann nach vorn an den Trecker rufen. DasWagentreppchen wird wieder hochgeklappt und mit
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