Roman unserer Kindheit
weiß, dass so ein leichtes, lausig dünnes Ding nur einmal gegen den Stacheldraht bei den Garagen fliegen muss, um kaputt zu sein. Zwei der größeren Knaben besitzen echte Fußbälle, die man mit gelbem Schuhfett einreibt und gegen deren Ledernähte eine verborgene Gummiblase drängt.
Dazu kommt noch der eine superschwere schwarze Gummiball. Er ist schon alt und weit gereist. Frau Böhm, die Mutterder Schicken Sybille, vermochte ihn als halbwüchsiges Mädchen in ihrer durch den Krieg unendlich fern gerückten Heimat bei einer besonderen Tanzgymnastik senkrecht so himmelhoch zu werfen, dass sie unter dem Steigen, Im-Totpunkt-Stehen und Stürzen drei Pirouetten drehen konnte, bevor er mit einem gehorsam, aber zugleich missgünstig dumpfen Schmatzen wieder in ihre Ellenbogenbeugen plumpste. Bis heute und auch in Zukunft ist die schwarze Kugel mit Vorsicht zu genießen. Beim Abwerfball schießen nicht nur den Mädchen die Tränen in die Augen, wenn sie den Böhm’schen Gummiball an den Kopf bekommen haben. Einem der Zwillinge wurde nach einem Wurf von Wolfskopf einmal derart gründlich finster vor Augen, dass seiner Erinnerung bereits das Niedersinken auf den Rasen fehlt. Deshalb lässt er sich ab und zu, am liebsten vom Älteren Bruder, schildern, wie es für die anderen aussieht, wenn man wie umgekegelt daliegt, mit zitternden Lidern, mit hellem Blut in einem Nasenloch und schaumiger Spucke auf den schlaffen Lippen.
Weil das Wetter nicht besser werden will, hat die Mutter den Kindern den großen Raum neben dem Fahrradkeller aufgeschlossen, obwohl sie deswegen wieder Ärger mit Herrn Krausser, dem neuen Hausmeister, bekommen wird. Der dumme Streber, wie ihn die Mutter vor den anderen Müttern nennt, hat sie erst kürzlich, erst im verregneten Juli, kategorisch darauf hingewiesen, dass Keller und Dachboden keine zum Spielen freigegebenen Bereiche seien und dies in jedem Mietvertrag unter Paragraph soundso Wort für Wort nachgelesen werden könne. Aber die Mutter kann an einem Regentag nicht alle Kinder gleichermaßen mögen. Wenn bloß Sybille und deren kleine Schwester zu ihren Söhnenkämen, wäre es ihr schon recht. Dann trüge sie bereitwillig die gelbgepunkteten Gläser voll mit verdünntem Himbeersirup und Wurstbrote ins winzige Kinderzimmer. Fünf Kinder sind an einem Regennachmittag noch auszuhalten, wenn sie auf dem Boden Karten spielen oder sich rund um ein Brettspiel lümmeln. Dann macht es nichts, wenn sie sich im Laufe der Regenstunden ein paarmal in die Haare kriegen, wenn Sybilles kleine Schwester losheult, weil sie immer noch nicht verlieren kann und leider immerzu verliert, obwohl der Ältere Bruder schummelt wie Gott, um sie wenigstens einmal zur strahlenden Gewinnerin zu machen. Sogar wenn fünf Piraten im Doppelstockbett der Zwillinge das Kapern eines Schiffes und das Niedermetzeln seiner Besatzung üben und dabei das Holz wie unter Schmerzen quarrt, ist die Mutter imstande weiterzubügeln, als könnte nichts passieren. Aber wer die Witzigen Zwillinge und unseren großen Bruder in die Welt gebracht hat, muss an einem Regentag wie diesem damit rechnen, dass nicht nur die Töchter von Frau Böhm an der Wohnungstür klingeln und etwas erzählt bekommen wollen.
Die Mutter weiß zu ihrem Glück nicht, wie viel an ihrem Tun und Lassen, an ihrem mütterlichen Entscheiden und Vermeiden für ihre neunmalklugen Söhne bereits durchschaubar ist. Unten im Keller, in der nach abgelaugtem Fichtenholz duftenden Luft der Waschküche, ahnen die Zwillinge und der Ältere Bruder sehr wohl, dass die Mutter oben seufzend noch einen Extralöffel Instantpulver auf den Grund des hohen, gerippten Glases rieseln lässt. Die größte Tasse ist ihr längst zu klein. Von morgens bis abends trinkt sie heißen, lauen, auch kalt gewordenen, aber immer starken Kaffee aus dem dickwandigen Saftglas, von dem es nur einExemplar im Schrank gibt und das die Brüder bloß als das Kaffeeglas der Mutter kennen. Sie nimmt nur wenig Zucker und gerade so viel Kondensmilch, dass die Schwärze sich in ein dunkles Braun verwandelt. Zwei Runden des Minutenzeigers auf der Küchenuhr wird sie jetzt solo sein, alleine mit dem Radio, allein mit dem amerikanischen Soldatensender und einer Sendung, die siebenmal in der Woche, immer zu dieser Stunde, ausschließlich Goldene Schallplatten aus drei Jahrzehnten spielt.
Die Schicke Sybille gautscht auf dem Böhm’schen Ball herum, ihr Kleid umhüllt die Kugel, verbirgt das matte Schwarz des
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