Roman unserer Kindheit
einem Haken gesichert. Für einen Handschlag geht der vermummte Unbekannte noch ans Führerhäuschen. Dann quillt ein schwarzer Rauchstoß in den Regen, und das Gespann zieht tuckernd ab.
Zurückgekehrt beginnt Sybille, der es nun in der Waschküche viel kälter als draußen im Regen vorkommt, schlimm zu bibbern. Sie hockt sich mit nassem Schlüpfer auf den Ball, schlüpft aus Sandalen und Söckchen und lässt sich von ihrer kleinen Schwester die kalten Füße reiben. Alle haben beobachtet, wie tief und lang die Kapuze des Fremden zu ihr hinabgebeugt gewesen ist, und alle warten nun darauf, dass sie erzählt, was ihr da geflüstert wurde. Ich weiß, mit welch besonderer Neugier unser großer Bruder ihren Bericht erwartet. Nur seine Augen haben den weißen Fleck im Gesicht des Kapuzenmanns als Mull erkannt. Sybille nennt dasselbe für alle einen Verband und zeigt dazu, als wäre ein Vergleichen nötig, auf das bandagierte Bein des Älteren Bruders. Das muss genügen. Sie sagt nicht, obwohl es ihr schon auf der Zunge liegt, wie seltsam rosig die Haut rund um die seltsam kleinen Ohren des Kapuzenmannes schimmert, behält für sich, wie gründlich das Mullrechteck rechts und links je zweimal festgeklebt ist. Des Weiteren verschweigt sie, dass über den wassergrauen Augen des Fremden die Brauen fehlen. Stattdessen berichtet sie ihren Freunden bloß, er habe nach ihrem Vornamen gefragt und nach den Namen derer, die er aus dem Waschküchenfenster herüberlugen sah. Dabei fällt ihr wieder ein, dass er in fairem Tausch auch seinen Namen preisgegeben hat. Aber den hat sie sich nicht gemerkt. Wozu auch? Wozu sich Mayer oder Müller merken? Er hieß, er heißt ja anders besser. Sybille schlottert, ihre blaugrau gewordenenLippen beben. Hier in der Waschküche würde es ewig und drei Tage dauern, bis ihr Rock, bis ihre Haare wieder trocken wären. Also beschließt sie, nach oben zu gehen und sich umzuziehen. Die anderen haben sie in aller Kürze gut genug verstanden. Für jeden der Freunde trägt der Fremde jetzt denselben Namen. Weil sich der Mull so ungeheuer flach, ohne die erwartbare Erhebung, vom Kinn hinauf bis an die Augen und vom einen Öhrchen hinüber zum gleichermaßen kleingeschmorten anderen spannt, heißt dieser neue Nachbar, heißt der in unseren Sommer Eingezogene für mich und alle nur: Der Mann ohne Gesicht.
Sonnentag
Die Zwillinge sind große Schläfer. Der Ältere Bruder, der aufgewacht ist, weil er das Moped des Vaters am Kellerausgang starten hörte, sieht, wie den beiden im Doppelstockbett die Augenlider zucken. Das Fenster des Kinderzimmers schaut nach Südosten, durch das linke Drittel des roten Vorhangs suppt die Morgensonne, schon liegt ein breiter Streifen flammendes Orange über dem Kopfende der oberen wie der unteren Etage. Von seinem Bett aus greift der Ältere Bruder an den Vorhang und zieht ihn ein Stück zu sich heran. Das Licht auf den Gesichtern seiner Brüder wird kurz weiß, dann sackt der schwere Stoff zurück, wie immer hat ein einziges Aufblenden genügt, um das synchrone Wälzen einzuleiten. Stets schaffen es die beiden, samt ihren Kissen, ohne dass Ohr und Schläfe die Fühlung zu diesen Garanten ihres Schlummers missen müssten, an das andere Ende ihrer Matratzen zu wandern. Nur die dünnen Sommerdecken scheinen dieses Mal der doppelt unbewussten Krabbelpirouette widerstehen zu wollen. Sie werden, so sehr sie sich auch knäulen, nach hinten an die Wand gewurstelt. Schon liegen die Knaben verkehrt herum im Bett. Ihre Lider beruhigen sich. Sie werden nun halbwegs Schatten haben, bis die Mutter den Vorhang beiseitereißen, das Fenster öffnen und die Witzigen Zwillinge zuerst elende Schlafmützen und, fast im Anschluss, als tue ihr die Barschheit sogleich leid, ihre zwei süßen Sommermurmeltiere nennen wird.
Die Zwillinge behaupten, dass sie das Längerschlafen an den Wochenenden und in den Ferien zum Witzemerken nützen. Als die Mutter sie an diesem Morgen wie immer nach ihren Träumen fragt, behaupten beide, eben noch, ehe man sie aus dem schönsten Schlummer riss, denselben neuen Witz durchmemoriert zu haben. Bevor der Ältere Bruder Einspruch erheben kann, wird der Mutter schon erzählt, was der Ami-Michi gestern in der Waschküche mehr schlecht als recht zum Besten gegeben hat. Es ist ein Einer-kommt-in-die-Hölle-Witz, und die Zwillinge erzählen ihn so, dass der linke die Handlung übernimmt und der rechte mit verstellter Stimme die wörtliche Rede, die Fragen der
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