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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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könnte man sagen, sie verfüge über eine Stirn aus Glas. Die Kinder haben alle drei Flügel geöffnet. Und während der Regen so dicht niedergeht wie noch nie in diesem gewitterreichenSommer, schauen sie hinaus, hinüber zum hinteren, zum rosa Block. Sie sehen, dass sich das Wasser vor dem verstopften Gully des dritten Aufgangs staut, beobachten, wie Herr Wischmann, der Postbote, den Anfang der gewaltigen Lache umkurvt und sein Fahrrad dann doch durch deren tiefste Stelle steuern muss, um zu den Briefkästen zu gelangen. Als er wieder wegfährt, gerade als er auf einem der glattgewetzten Pedalgummis abrutscht, auftippen muss und bis zum Knöchel nass wird, hören sie das Tuckern. Schnell kommt es näher.
    Am Abend wird der Schniefer seinem Vater, der alles zu kennen beansprucht, was von einem Explosionsmotor bewegt wird, beschreiben müssen, wie die Zugmaschine ausgesehen hat. Und weil dem Schniefer-Vater der senkrecht aufragende Auspuff, das wie der Schirm einer Mütze vorstehende Dach des Führerhäuschens und die fast gleiche Größe von Vorder- und Hinterrädern nicht ausreichen, um letzte Zweifel auszuräumen, wird er beide Hände auf den Bauch legen und mit einem tiefkehligen Blubbern das Geräusch imitieren, dem die Kinder nun ausgiebig lauschen dürfen, weil der Trecker vor dem dritten Aufgang stehen geblieben ist und sein einziger, aber dafür riesiger Motorkolben weiter im Leerlauf auf- und niederhämmert.
    «Das ist ein Zirkus-Bulldog!», behauptet die Schicke Sybille und befiehlt den Fröhlich-Geschwistern, die ihre Anoraks dabeihaben, weil sie aus dem gelben Block herübergekommen sind, in den Regen hinauszurennen und aus der Nähe zu erkunden, was es mit der Zugmaschine auf sich hat. Sie sollen einfach den Mann ansprechen, der eben das hölzerne Treppchen von der Tür des Anhängers herunterkippen lässt. Der Fröhlich-Junge schlüpft schon in den zweiten Jackenärmel,als das Fröhlich-Mädchen plötzlich behauptet, dass solche Zirkusleute, wie der da draußen, kleine Kinder verschleppen würden. Die müssten dann beim Auf- und Abbauen des riesigen Zeltes schuften und lägen später gefesselt, geknebelt und angekettet in einem Wohnwagen, während sich rund um die Manege nichtsahnende andere Kinder, vielleicht sogar ihre nur durch Zufall noch nicht versklavten Brüder und Schwestern in der Vorstellung vergnügten.
    Sybille haut ihr eine runter, damit sie zu spinnen aufhört. Aber es ist bereits zu spät. Die Fröhlich-Geschwister weinen um die Wette, wollen auf keinen Fall als Spürtrupp zum hinteren Block hinüber, sondern nur noch nach Hause. Schließlich lässt unsere Schicke Sybille sie ins Treppenhaus entwischen, obwohl sie doppelt so stark ist wie die beiden weizenblonden Schwächlinge zusammen. Den Fröhlich-Bruder hätte sie auch jetzt noch mit einem einfachen Armverdrehen oder mit ein bisschen Haareziehen in Nullkommanichts dazu gebracht, nach Trecker und Anhänger zu sehen. Aber dann hätte das feige Fröhlich-Mädchen alles ihrer Mutter vorgejammert, und die wäre schnurstracks herübergekommen, um bei den Böhms Sturm zu klingeln.
    «Der Mann zieht ein!», erklärt Sybille, und keiner widerspricht ihr, denn alle sehen den Kerl mit dem grauen Kapuzen-Poncho bereits die zweite sperrige Holzkiste durch die Tür des Bauwagens hieven, den der Bulldog genau vor den Eingang gezogen hat, damit der Weg durch den Regen möglichst kurz ist. Dann holt der Fremde einen Tisch an die Tür, lädt ihn sich auf den Rücken und patscht damit durch die Pfütze. Alle können sich denken, dass der Kapuzenmann bis heute in diesem Wagen gewohnt hat, denn jeder sieht den kleinen Schornstein auf dem tonnenrunden Dach und denkarierten Vorhang am winzigen, vergitterten Fenster. Und weil alle nach dem Tisch und den zwei Stühlen auch noch die Bretter, den Federrahmen und die drei Matratzen eines Bettes erwarten, ist jeder hochzufrieden, als genau diese Teile nacheinander durch den Türspalt manövriert und ins Haus getragen werden.
    Mehr als die Möbel, mehr als den wadenlangen Poncho aus grauem, allmählich durch die Nässe schwarz werdendem Stoff, mehr als die riesigen, militärisch geschnürten Stiefel sieht nur der Ältere Bruder. Er sieht den kleinen abgerissenen Tannenzweig im Fenstergitter, die ausgerupfte Wurzel der Brombeerranke, die sich um die Deichsel schlingt, und wenn der Schleppende am Fuß des Treppchens vor dem Abdrehen kurz den Kopf hebt, ahnt er als Einziger, was es mit dem knochenweiß

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