Roman unserer Kindheit
Konvoi damals noch ein gutes Stück ins Rosengestrüpp hinein verfolgt. Er weiß nicht, warum es Mädchen weit mehr als Jungen vor den nacktschwänzigen Nagern gruselt. Aber ihm schwant etwas. Der Schniefer hat, obwohl ihn seine Lehrerin, seine beiden großen Schwestern, sein Vater und sogar seine Mutter für eher dämlich halten, immer wieder, nicht allzu oft, aber doch regelmäßig Ideen, auf die so schnell kein anderer käme. Seinen Freunden ist dieses Vermögen, einem nach dem anderen, im Lauf ihrer Spiele aufgefallen. Und deshalb wundern sich weder der Ältere Bruder noch der Wolfskopf, weder der Ami-Michi noch die Zwillinge, dass er nun sein wie immer absolut reines Taschentuch herauszupft, es umständlich auseinanderfaltet, in seiner ganzen Schönheit auf dem grünen Cordbezug der Couch ausbreitet, es glatt streicht und dann Sybille auffordert, sich auf das hellblaue Quadrat zu setzen. Das macht sie gern, schiebt sich dabeibedacht den Rock unter die Schenkel, nach einem Weilchen lehnt sie sich sogar an, zu guter Letzt dürfen auch ihre Kniekehlen den sonnenwarmen Cord berühren.
Der Mann ohne Gesicht hat nicht geschlafen. Der Mann ohne Gesicht schläft nie. Die vielen zwischen jungen Bäumen durchwachten Nächte erscheinen ihm jetzt, wo er den Wald geopfert hat, wie eine idiotisch lange Kette aus grüngebeizten hölzernen Perlen. Es sind so viele, dass er sich beim Rückwärtsfingern im Nu an ihre Ähnlichkeit, an ihre plumpe Serialität verliert. Sogar die Jahreszeiten schieben sich ihm in der Erinnerung übereinander. Er sieht den jungen Fuchs, bis an den Bauch im hohen, mondhellen Schnee, und spürt im selben Vergangenheitsmoment die Landung einer Mücke auf der verschwitzten Haut des nackten Ellenbogens.
Die erste Nacht im Wohnblock wurde von einem kühlen Kobaltblau durchschimmert. Noch hängen keine Vorhänge vor seinen Fenstern, und die hohe Bogenlampe am anderen Ende des Hauses ist so stark, dass ihr kaltes, monochromes Strahlen bis an den dritten Aufgang reicht. Er lag auf seinem Bett. Punkt zwölf erlosch die Straßenbeleuchtung. Schlagartig war die Wohnung wieder so warm, wie es sich, auch nach einem großen Regen, im August gehört. Der Mann ohne Gesicht ging hinüber in seine neue Küche, schwenkte die Flügel des Fensters ganz nach innen, zog einen seiner beiden Stühle heran, um sich den vorderen Block, den erbsengrünen Kasten, das Gehäuse der Kinder, mit nächtlicher Muße anzusehen.
Im Morgengrauen glaubte er das Gebäude im Groben durchschaut zu haben. Drüben wurden die ersten Schlafzimmervorhänge zurückgeschoben, genau gegenüber knacktedas Kellerschloss. Ein Mann, etwa in seinem Alter, stemmte ein silbernes Moped die schmale Schräge neben den Treppenstufen herauf. Es ließ sich nicht vermeiden, die Schwingung des Fremden aufzunehmen. Auch um sich diesem Pulsieren, den Kraftfeldern der anderen Kriegsteilnehmer, zu entziehen, war der Mann ohne Gesicht vor Jahr und Tag in den Wald gegangen. Der an der Kellertreppe hat keinen einzigen Schuss auf einen fremden Körper abgefeuert. Erst ganz zuletzt sind ihm ein Dutzend blutnasser Löcher in Uniformen, ein einziger in großen Fetzen aufgerissener Armstumpf und langgezogene, bräunlich verwischte Schlieren im Traumblau des Mittelmeers als sein Anteil an der Kriegsbildflut mit auf den Weg gegeben worden. Brav hat er dies alles, Fleisch für Fleisch, Knochen für Knochen, Blutloch für Blutloch, auf dem anschließenden Friedenstrott für sich behalten. Nur einmal, als er und seine Frau mit einem schwachbrüstigen Dreiradlieferwagen, ihrem Umzugsauto, ganz langsam die damals noch nicht asphaltierte Straße aus Oberhausen in die Neue Siedlung hinauftuckerten, hat er dem Druck der Bilder nachgegeben und der Mutter seines Erstgeborenen, die schon die Zwillinge im Leibe trug, ein wenig von diesem mörderischen Blau, von seinem Griechenland ins Ohr geflößt.
Am heutigen Morgen stieg er mit Schwung in die Pedale seines aluminiumfarbenen Mopeds. Nach einer einzigen Umdrehung sprang das Motörchen an. Er ahnte, wie viele seiner Wohnblocknachbarn das Losknattern des Zweitakters aus dem Schlaf riss. Aber allein um den Schlummer Annabett Böhms, um deren letzte Tiefschlafrunde, die vielleicht für die Frische ihrer Schönheit unerlässlich war, tat es ihm kurz ein wenig leid. Sein eigenes Eheweib hatte in der zurückliegendenNacht erneut alles, was ihr die Kinder an Kraft gelassen hatten, den ersten hundert Seiten eines Romans geopfert. Um ihn
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