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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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nicht zu sehr zu stören, blätterte sie mit spuckefeuchtem Zeigefinger um. Bis weit nach Mitternacht hatte sich der stille, von leisem Rascheln getaktete Exzess auf der anderen Seite des Ehebettes hingezogen. Wie immer war sie mit dem Weckerklingeln als Erste aufgestanden, um ihm Frühstück zu machen, und allenfalls zum Weiterlesen ihres Wälzers würde sie sich noch einmal ins Bett zurückbegeben. Ein hohes Glas Kaffee, bestimmt bereits ihr drittes, maß dann die Zeit. Sein Älterer ging leider Gottes völlig nach der Mutter, verschmökerte wie sie die halbe Nacht und spintisierte dann vor seinen Freunden im Hof herum wie ein Märchenerzähler auf dem Basar.
    Er ließ die Kupplung kommen, das schnitt ihm die Familie ab. Die Baustelle wartete. Das hieß an diesem Arbeitsmorgen: Der frischgebackene Polier, dieser übereifrige junge Affe, würde nicht zögern, jedes Zuspätkommen minutengenau in seiner Kladde zu vermerken. Das Moped kurvte auf den Drosselgrund hinaus. Der Mann ohne Gesicht ließ ihn samt seinem morgendlichen Murren hinter der Breitseite des rosa Blocks verschwinden. Genug verstanden. Er hatte erfasst, wie sehr dieser Altersgenosse, dieser vorgebliche Handwerker, sein Handwerk hasste, er hatte lang genug mitgefühlt, um zu begreifen, dass der Vater des Älteren Bruders und der Zwillinge niemals seinen Männerfrieden mit der lächerlich blanken Kelle und dem blöd stumpfen Mörtel machen wird.
    Durchsetzt von den Rückständen dieses Widerwillens schwebte der Auspuffdunst als eine quecksilbrige Schwade in der klaren kühlen Luft. Der Mann ohne Gesicht stellte sich vor, wie das verbrannte Benzin-Öl-Gemisch allmählichin immer zarteren, schließlich unsichtbar gewordenen Wirbeln über die Wiese herangezogen kam, er wusste, wie es für ihn riechen würde, wenn er noch riechen könnte. Und wie zum Trost fiel ihm ein allerletzter verspäteter Einblick in die Vorzeit des Abgefahrenen zu. Dieser Mann, der es verabscheute, zu mauern, Böden zu betonieren und Wände zu verputzen, hatte auch den erbsengrün gestrichenen Block, in dem er nun schon über sieben Jahre wohnte, mit seinen Kollegen aus dem aufgewühlten Grund der Stadtrandwiesen hochgezogen. Während die letzten beiden Blöcke, der böse türkise und der schlimme weiße Kasten, parallel in Arbeit waren, war er mit seiner hochschwangeren Frau und ihrem ersten Sohn in die noch nicht ganz trockene Neubauwohnung eingezogen. Durch diese Kellertür, die er inzwischen tausendmal und mehr auf- und zugeschlossen hat, kam er bereits damals herauf, kreuzte in seinem Berufskostüm, im graufleckigen Weiß der Maurer, auf einem Trampelpfad die Wiese, um in wenigen Minuten die Gerüste zu erreichen, über deren wippende Bretter er und die Kollegen Montag bis Freitag und den halben Samstag stapften. Das war zu nah gewesen. Damals, als sie den weißen Block, trotz der elenden Widrigkeiten, trotz der drohenden Unnutzbarkeit, bis an die Dachkante hochgezogen hatten, stand er einmal kurz vor Feierabend als Letzter oben. Unten wummerte der Kompressor, quietschte die Pumpe. Am nächsten Morgen würde das rötlich verfärbte Wasser wieder kniehoch in den Kellern stehen. Er stieg auf eine Werkzeugkiste. Mit einem einzigen langen Blick, mit einem Panoramaschwenk vom Rosenhang zum Gaswerk, hinüber zum frischgedeckten türkisen Block und von dort, vorbei am Kirchturm, zurück zum Hang, zu den Kastanienwipfeln im Garten der alten Bärenkeller-Wirtschaft,erfasste der Vater des damals dreijährigen Älteren Bruders, wie ungut nah sein elendes Malochen dem erneut, dem eventuell zum letzten Mal rund gewordenen Bauch seiner Frau gekommen war.
    Später kocht sich der Mann ohne Gesicht starken schwarzen Tee, lässt aber Kanne und Tasse am Gasherd stehen. Er braucht den Tisch ganz nackt. Aus dessen Schublade nimmt er einen dicken rotlackierten Bleistift, wie ihn nicht nur die Zimmermänner, sondern auch viele Maurer in der schmalen Knietasche ihrer Arbeitshose stecken haben. Mit seinem Walddolch schnitzt er ihm eine schöne, spatelförmig zulaufende Spitze. Der Stiel des Kochlöffels ist glatt genug, um als Lineal zu taugen. Wohnblock auf Wohnblock rillt der Mann ohne Gesicht in das weiche Holz seines Küchentisches. Fünf Rechtecke reihen sich, jedes kleinfingerlang, den Drosselgrund entlang, bis an dessen Ende, bis an die alte, der Siedlung vorgängige Buche, bis an das Spielplatzgelände, dessen erstaunliche Ausdehnung er gestern Abend, als der Regen nachließ, bei einem ersten

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