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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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häufig das leuchtend helle Rot für Blut steht, für das Wundblut eines erjagten Tieres oder für den nicht weniger reichlich vergossenen Lebenssaft eines rettungslos verlorenen, eines von Klauen und Reißzähnen zerfleischten Menschen.
     
    Der Mann ohne Gesicht mag es, allein zu sein. Schon damals im ersten Leben, als er sich noch die Nase schnäuzen konnte, ist er gern für sich geblieben. Allerdings weiß er erst aus den letzten Jahren, erst, seit er im Wald war, was ein übertriebenes Abstandnehmen von den Artgenossen nach und nach im Hirn anrichtet. Von Anfang an hatte er jeden dritten oder vierten Tag mit den Forstarbeitern des Reviers einen kleinen Plausch gehalten. Sie rauchten vor dem Treppchen seines Wagens, ließen sich meist auch auf Tee oder Kaffee einladen, und ihm gefiel die Art, wie ihre breitgeschufteten Hände das rote Emaille seiner Pötte umschlossen. Sogar im Sommer wirkten diese Pranken wärmelüstern. Und alle, bis auf Dietmar, dem an der Rechten der halbe Daumen fehlte, schoben die groben, gelben Daumennägel wie Sicherheitshaken unter den Bogen der Henkel.
    Sie waren gesprächig, vielleicht weil ihre Arbeit chronisch laut war und ihnen die Stille der Arbeitspausen schnell unbehaglich wurde. Am liebsten erzählten sie von Unglücksfällen, meist von selbst erlittenen oder zumindest mitangesehenen, aber auch längst legendär gewordenes Blutvergießen kam zur Sprache, und niemand störte, dass urig muskulöse Pferde und riesige Zugsägen mit mehr als mannslangen Zackenbändern dabei tragende Rollen spielten. Wie Dietmar, dem Vorarbeiter, fehlten noch vier anderen Finger oder Fingerglieder.Einem, dem Polen-Willi, zog sich eine breite, sichelkrumme Narbe von der rechten Schläfe in die Stirn, um dort unter einer übergroßen Augenklappe zu verschwinden und links neben der Nase als feine rote Linie noch einmal aufzutauchen. Um weitere Versehrungen zu präsentieren, mussten Hemdsärmel aufgekrempelt oder Hosenbeine hochgeschoben werden. Manchmal sollte er die Tiefe oder die wulstige Erhöhung der Narbe mit den Fingerspitzen prüfen. Natürlich fragten sie ihn nie, wo sein Gesicht geblieben war.
    Im letzten Frühling unterlief ihm der entscheidende Fauxpas. Als sie zu sechst ganz eng um den Tisch in seinem Wagen saßen und das Zeitungspapier, in das die Semmeln und Brote eingeschlagen gewesen waren, keinen freien Fleck mehr ließ, begann er, nur um etwas zum allgemeinen Witzeln beizutragen, von den Mäusen zu erzählen. Boden, Wandung und Tonnendach des Bauwagens waren doppelt. Zwischen die beiden Bretterschichten hatte man als Isolierung Rosshaar gestopft, sodass er es, wenn das Feuer in seinem Öfchen ausgebrannt war, noch ziemlich lange warm in seiner Bude hatte. In dieser Dämmschicht hatten sich die Nager der Lichtung eingenistet. Immer aufs Neue suchte er nach ihrem Schlupfloch, nagelte Brettchen vor die in Frage kommenden Ritzen, aber es gelang ihm nie, sie endgültig nach draußen zu verbannen.
    Spätabends, wenn er die Kerze ausgeblasen hatte, wenn er auf seinem schmalen Bett lag und sein Atem ruhiger ging, begannen sie zu fiepsen. Es dauerte noch eine gute Stunde, bis die Töne nach und nach in tiefere Frequenzbereiche sackten, und noch ein weiteres Stündchen, bis sich die einzelnen Pfiffe zu Silben zusammenzogen. Wenn er ganz still auf dem Rücken liegen blieb und nicht den Fehler machte,wieder schneller oder unregelmäßig Luft zu holen oder sich gar herumzuwälzen, kam ihm irgendwann das erste Wörtchen bekannt vor. Als er sich halbe, manchmal sogar ganze Sätze spekulativ erschließen konnte, mutmaßte er zunächst, es könnte sich um eine ältere Stufe seiner Muttersprache, um die urige Reinform eines Dialekts oder gar um Jiddisch handeln. Dem widersprach jedoch die stottrige Überlänge der vokalreichen Wörter. Ganz eigentümlich spät, mitten in einer langen Frostperiode, während der die auf der Scheibe des Fensterchens kondensierte Atemfeuchtigkeit Nacht für Nacht in immer üppigere Eisgewächse umschlug, verstand er jählings die Regel der Codierung. Nichts weiter als unser ganz normales Hochdeutsch wurde in den Mäusekehlen nach ein und demselben einfachen Muster verschlüsselt. Er schämte sich nicht wenig vor den Tierchen. Er schämte sich dafür, dass er als Mensch und erwachsener Mann so spät hinter diesen simplen Mäusetrick gekommen war.
    Den stumm lauschenden Forstarbeitern hatte er bloß ein wenig ausführlicher beschreiben wollen, wie schwer es ihm selbst dann

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