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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Jeden Mittwoch macht er Hausbesuche, und seit die Schwiegermutter von Frau Roser im zweiten Stock mit langem Atem, fast mit einer Art von Muße, im Sterben liegt, schaut er nicht nur mittwochs, sondern auch montags und freitags bei ihr vorbei, um ein Viertel- oder gar ein halbes Stündchen mit der im Schneckentempo Scheidenden über die eine oder andere verjährte Nebensächlichkeit, vor allem über alte Filme, manchmal auch über den einen oder anderen Roman, den nie mehr irgendjemand lesen wird, zu plaudern.
    Frau Roser ist es gelungen, ihren Brustkrebs mit Disziplin und Klugheit und viel Verbandsgeschick so lang vor Sohn und Schwiegertochter zu verbergen, bis die Geschwulst garantiert inoperabel war. Sich selbst den Oberkörper und dessen nach außen durchgebrochene Altersfrucht zu bandagieren, war allein schon alle Achtung wert. Ernst Junghanns pfiff anerkennend durch die Zähne, als ihm der Kunstverband zum ersten Mal vor Augen kam. Emilie Roser winkte in selbstgewisser Bescheidenheit nur ab. Sie habe den ganzen Krieg lang in Lazaretten im Osten wie im Westen genug gelernt, habe zuletzt als Oberschwester selbst Mädchen mit zwei linken Händen noch das Nötige beigebracht. In Mull und Zellstoff mache ihr so schnell keiner etwas vor. Das werde auch so bleiben. Und es bleibt auch so. Sogar an ihrem letzten Morgen, im Kaffeeduft ihrer Todesstunde, wird sie die Hände ihrer Schwiegertochter nicht an den außer Rand und Band geratenen Busen lassen müssen.
    Von der Mutter ins Erdgeschoss geholt, geriet der alte Arzt erst einmal über sich selbst ins Wundern; ein von der Zeit verschüttetes Vermögen, die Wiedersehensfreude, lebte jählingsin ihm auf. Es war verblüffend, wie sehr es sein Gemüt erhellte, den dünnen Jungen samt seiner Ferse wieder vor Augen zu haben. Er nahm der Mutter des Knaben die Schere, mit der sie schon die ganze Zeit herumlief und hilflos ins Leere drohte, aus der verkrampften Rechten und machte sich daran, den Verband zu öffnen. Er war gespannt, wie Felsenbrecher den von den Speichen zerfleischten Fuß geglättet hatte. Früher, als seine Augen noch scharf und seine Finger ruhig gewesen waren, hätte ihn eine derart diffizile Flickarbeit gerade wegen ihrer Risiken gereizt.
    Die Felsenbrecher’sche Versorgung erwies sich als rigoros, penibel, souverän. Der alte Doktor Junghanns wurde noch einmal, was nur noch äußerst selten vorkam, richtig stolz auf seine Zunft. Der Mutter unseres großen Bruders sagte er, wie so oft lasse sich auch in diesem Fall erst nachträglich, erst wenn ein Könner sein Bestes gegeben habe, beurteilen, wie groß die Not gewesen sei. Die Verletzung ihres Sohnes habe nicht nur die Wahrscheinlichkeit einer langwierigen Behandlung, sondern wie einen stillen bösen Keim auch die Gefahr einer bleibenden Gehbehinderung, vielleicht sogar den Schrecken einer Fußabnahme in sich getragen. Erstaunlich, was Knaben sich mit einer scheinbar friedlichen Erfindung wie dem Fahrrad antun könnten. Nein, die Temperatur müsse sie jetzt nicht schon wieder messen. Er sei ja da. Er spüre mit der bloßen Hand, dass es recht viel sei. Wenn er selber ein derartiges Fieber, ein richtiges Mordsfieber hätte, müsste er sich natürlich Sorgen machen. Aber für einen Jungen in diesem Alter sei es prinzipiell nicht schlimm. Mit dem lädierten Fuß habe das Fieber übrigens nichts zu tun. Das dürfe sie ihm als doppeltem Weltkriegsveteranen wirklich glauben. Mit allem, was man dem Körper brachial, mit roher, mechanischer oderchemischer Gewalt von außen antun könne, kenne er sich besser aus, als ihm manchmal lieb sei.
    Ernst Junghanns legte dem Älteren Bruder erneut und dieses Mal ein wirklich langes Weilchen die Finger auf die Stirn. So kam die Mutter nicht umhin zu sehen, wie unerträglich stark sich die hornig trockenen Faltenreihen und die warzenhaft verdickten Flecken seines Handrückens von der feuchten, glatten Haut ihres Sohnes unterschieden. Unheimlich sah es aus, als wäre der gute Siedlungsdoktor in Wahrheit ein großes Reptil, eine gelehrte, ja weise Echse, die sich, so, wie es in speziellen Büchern manchmal zugeht, aus dunklen, tief zwiespältigen Gründen ausgerechnet die Kurierung der pelzlosen Säugetiere zur Profession erkoren hat.
    Heute ist das Fieber wie fortgepustet. Die Mutter war eben noch schnell weg, um bei Tabak-Geistmann zwei kleine Tuben Alleskleber einzukaufen. Herr Geistmann wies sie netterweise auf den Preisvorteil der Familientube hin, aber die Mutter kaufte

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