Roman unserer Kindheit
noch gefallen war, das chorisch gefiepste, fast gesungene Wort «maubausebetobot» rückzuübersetzen. Er hielt dies für ein spaßiges Beispiel, das auch diesen Männern der Faust einleuchten und gefallen würde. Aber stattdessen musste er begreifen, wie grundsätzlich sich der Humor der handfesten Kerle von seinem unterschied. Ihr restliches Beisammensitzen verlief peinigend still, man hörte die Arbeit der Brot und Wurst kauenden Backenzähne, das Knacken der Kiefergelenke. Und ein paar Tage später sprach Dietmar wohl im Namen aller bei ihm vor. So gottverlassen im Wald zu hausen sei auf die Dauer für keinen gut. Es müsse doch irgendwo eine Schwester, eine Tante oder zumindest eineKusine geben, zu der er ziehen könne. Vor allem die Art, wie der Vorarbeiter dabei versuchte, seinen Daumenstummel ins rechte Nasenloch zu schieben, bereitete ihm Unbehagen. Und als es Dietmar dann tatsächlich gelungen war, das Restglied bis an die Beuge zum Zeigefinger in die abnorm gedehnte Gesichtsöffnung zu zwängen, bekam der Mann ohne Gesicht nicht wenig Angst vor dem, worüber sich dieser wackere Kerl womöglich mit seinen Kameraden bereits unausgesprochen einig war. Schon in der Folgenacht wurden auch seine Mitwohner, die Mäuse, explizit: «Mabach dibich dübünn, bebevobor maban dibich plabatt mabacht. Haubau ebendlibich abab! Ibin diebie Neubeuebe Siebiedlubung! Ibin deben Drobossebelgrubund!»
Der Mann ohne Gesicht greift nach dem neuen Stift. Erst wie er bei Tabak-Geistmann schon in der aufgezogenen Tür stand und die Schamanenglöckchen zum zweiten Mal für ihn erklangen, kam ihm noch die Idee, einen dieser speziellen Stifte mitzunehmen. Er hatte sie beim Bezahlen in einer hohen Dose stehen sehen. Als er deswegen wieder vor die Theke trat und eben mit dem Zeigfinger darauf weisen wollte, kam ihm Horst Geistmann routiniert zuvor: «Einen Tintenblei? Blau, rot oder violett?» Jetzt, hier am Tisch, über den eingekerbten Plan gebeugt, schiebt der Mann ohne Gesicht die Spitze des Kopierstifts unter den Mull und leckt daran, wie er es unzählige Male gesehen hat, wenn irgendein Kassenzettel für ihn beschriftet wurde. Erstmals tut er es selbst und schmeckt die sekundenbruchteilkurze Süße und in paradoxem Umschlag den bitteren Nachgeschmack des Farbstoffs. Dann zieht er mit der feuchten, immer neu angelegten Mine die grauen Rillen der beiden Straßen nach: das kerzengerade, stramme «I» des Drosselgrunds, darüber das flache, auf demRücken liegende «C» des Kreuztöterwegs, der Hauptstraße der Siedlung, die er bereits bis an die Drogerie erkundet hat. Dabei dämmert ihm die Einsicht, dass hier auf dem Holz der Platte nicht nur die Straßen, sondern auch die Häuser nach Farbe dürsten. Die Blöcke wollen sogar in diesem groben, bloß zweidimensionalen Abbild kanariengelb und erbsig grün, anrührend rosafarben, tückisch türkis und kalkig weiß in Erscheinung treten.
Ich weiß, es ist hübsch naseweis, vielleicht sogar kokett, aber ich bilde mir bisweilen gerne ein, allein auf dieser Welt, allein mit mir selbst zu sein. Alleinsein heißt für mich: Keiner legt mir den Finger auf mein spitzmauskleines Mündlein. Niemand sagt «Psst!» zu mir. Ich kann getrost hinausposaunen, dass die Mine eines Tintenbleis, wie es bereits im Namen mitschwingt, giftig ist. Wer sich damit unter die Haut pikst, wird, so er Pech hat, eine schlimme, weil langsam heilende Entzündung kriegen. Besonders gefährlich ist der Kopierstift für den, der ihn beidseitig anspitzt und es gewohnt ist, sich das doppelt schreibbereite Utensil hinters Ohr zu klemmen. Drogist Schümer könnte ein Liedchen davon singen. Erich Schümer hat es am eigenen Leib erfahren. Ein gutes Jahr ist es erst her, dass seine Frau mit Blaulicht und Tatütata ins Krankenhaus gefahren wurde und er hinten im Krankenwagen auf einem Klappsitz am Kopfende der Bahre hockte. Die schwächer werdenden Schnaufer seiner Evelyn im Ohr, drehte er den beidseitig angespitzten Tintenblei, den er den Sanitätern folgend, im bloßen Vorübergehen, ganz ohne Sinn und Zweck, von der Ladentheke genommen hatte, in den feuchten Fingern. Als er, es ging rasant den Berg nach Oberhausen hinunter, bemerkte, dass er sich dabei seine Händeviolett verschmierte, wollte er den Stift wie gewohnt hinter dem rechten Ohr verstauen. Aber da tat der Krankenwagen einen kleinen Sprung. Ganz unten, am Ende des Hangs, in der Unterführung, über die sämtliche Züge in Richtung Westen und Norden rattern, war
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