Roman unserer Kindheit
damals und ist bis heute, bis in meinen Sommer, die eiserne Fassung eines Gully-Deckels nicht perfekt in die Pflasterung eingepasst. Der Krankenwagen hopste. Der Klappsitz und Herr Schümer hopsten mit. Der hochwippende rechte Oberschenkel traf den rechten Ellenbogen. Die Hand flog zum Gesicht. Und Erich Schümer, gelernter Fotograf, stolzer Drogerie-Besitzer und Witwer in spe, stach sich für den Rest seiner Tage einen violetten Punkt ins Weiß des rechten Auges.
Sonnentag
Den langen, ornamental verschlungenen und symmetrisch verspiegelten Geschichten, den einzigen Handlungspfaden, denen es nachzustapfen lohnt und die sich, wie die Mutter längst befürchtet, bloß in Büchern finden lassen, schadet die pralle Sonne. Bereits fürs stille Lesen gilt dies wie ein Gesetz. Und wenn ein lauter Vortrag ansteht, stellt sich die Frage der richtigen, der angemessenen Beleuchtung mit noch größerer Dringlichkeit. Gut geeignet ist ein kleines Licht, ein Lämpchen, das seinen weißen Kreis wie einen Saugnapf auf die Seiten senkt. Oder der Akt vollzieht sich in einem rundum knapp bemessenen Dämmer, gerade noch hell genug, um das Dunkelgrau der Lettern vom Hellgrau des Papiers zu scheiden. So viel hat unser großer Bruder der Mutter, die sich eines allzu frühen Tages wirklich, wie es ihr Gatte manchmal grimmig scherzend prophezeit, zu Tode lesen wird, längst abgeguckt.
Deshalb wird nun das Doppelstockbett der Kleinen mit allen drei Decken sorgfältig verhängt, die ganze untere Hälfte soll im Schatten liegen. Aber weil die Vormittagssonne schon im Fensterrahmen des Kinderzimmers steht, schwimmt dem Älteren Bruder noch immer zu viel Helligkeit im Raum, und er befiehlt den Zwillingen, die Vorhänge vor die offene Fenstertür zu ziehen. Gerade als sie zurück an die Matratze kommen, bauscht sich die rechte Stoffbahn, ein Schatten malt sich unter sonnenroten Stoff, ein Schädel beult das Rot insZimmer, und schon rücken die Brüder enger aneinander, damit auch noch der Ami-Michi, der sich durch seine bisherige Teilhabe ein unbezweifelbares Zuhörrecht erworben hat, so bequem wie möglich Platz bei ihnen findet.
Jetzt soll es losgehen. Aber bevor unser großer Bruder die Stimme für den ersten Satz erheben kann, überwältigt ihn in zwei, drei Schüben ein schlimmes Gähnen, und während seine Lider die von den Tränen verschleierten Augen klären, fürchtet er, die Zwillinge könnten an der besonderen Tiefe seines Ein- und Ausschnaufens erraten haben, dass er sein Versprechen gebrochen hat. Gestern Abend waren auf seinem Bett noch einmal alle 63 Abbildungen des neuen Buches angesehen worden, und gemeinsam vorwärtsblätternd hatten sie spekuliert, welche Bögen die noch unerkannte Handlung zwischen den erstarrten Szenen schlagen würde. Während eine Mutmaßung die andere jagte, genossen sie mit schönster, mit brüderlich verschränkter Vorlust, wie alles in den Rahmen des Moments gebannt war und zugleich unruhig auf der Stelle ruckte, als könnte jedes eingeklebte Bild, selbst das geheimnisvollste, gerade das geheimnisschwerste, kaum erwarten, seine verborgene Bedeutung, seine Gültigkeit im Verlauf, zu offenbaren.
Obwohl die Witzigen Zwillinge am Ende dieses Sommers erst in die zweite Klasse kommen, lesen sie bereits ganz passabel, nicht flüssig, aber mit jener Bereitschaft zum mehrmaligen Anlauf, die schließlich auch lange Buchstabenreihen so beschleunigt, dass der Gesamtklang aufflammt. Bei der gestrigen Durchsicht, während der das Buch noch stärker als heute nach Alleskleber roch, hatte sich ihr Blick immer wieder einzelne Wörter, ein paarmal sogar halbe Sätze aus dem Zeilenbild herausgerissen. Unter der Wirkung des derartVerstandenen begannen die beiden, unruhig hin und her zu rutschen. Weil sie das Lesen-Können unseres großen Bruders chronisch überschätzen, gerieten sie in Sorge, der müsse vielleicht nur ein einziges Mal, ohne zu blinzeln, auf das Aufgeschlagene schauen, um dem Erzählgang einer ganzen Seite bis in den letzten Winkelzug zu folgen.
Dem Älteren Bruder war wohl aufgefallen, wie sie von beiden Seiten die Hände über den Buchrand schoben, um zumindest einen Teil des Gedruckten mit den Fingern zu verdecken. Zuletzt hatte er ihnen hoch und heilig versprechen müssen, erst morgen mit dem echten Lesen, das Zeile für Zeile wie einen enggewundenen Wurm in sich hineinfrisst, zu beginnen. Vom ersten Satz an sollten sie dann dabei sein. Während er dies gelobte, schob er, so beiläufig, wie er
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