Roman unserer Kindheit
es zustande brachte, das Buch, auf das die Brüder als Nudelpunktesammler einen Erstlingsanspruch hatten, unter sein Bett.
Danach ist er mit hart klopfendem Herzen wach geblieben, schnaubte in ungeschickter Tücke so, wie er sich den Klang des eigenen Schlafens dachte, versuchte gleichzeitig aus den Atemzügen der Zwillinge deren Wegdösen und die Tiefe ihres Schlummers herauszuhören. Schließlich wagte er, wieder nach dem Buch zu greifen. Er kippte es auf den schmalen, gewölbten Rücken und hörte dabei den Staub zwischen dem lackierten Karton und den Dielen so hämisch knacksen, als machte es jedem einzelnen Körnchen seinen speziellen Höllenspaß, ihn an die Brüder zu verraten. Erst als sein Unterarm erlahmte und er fürchtete, einen Krampf in der Hand zu bekommen, zog er das Buch ins Bett. Unter der dünnen Decke manövrierte er es an Rumpf und Beinen entlang in Richtung Fenster und spürte, wie kühl und fremdelndes zuletzt zwischen seinen Zehen, den nackten und den bandagierten, liegen blieb. Das Buch war treu, es kannte seine wahren Eigentümer und wollte von ihm, dem Betrüger, kein Quäntchen Wärme akzeptieren.
Er schämte sich und fühlte sich zugleich von der ungeheuren Schändlichkeit seines Tuns beflügelt. Das geschiente Bein bis an das Bett der Brüder schwenkend, schaffte er fast mühelos die Drehung. Aber als er verkehrt herum lag, den Vorhang lupfte und unter seiner Schulter festklemmte, als er nach zweimal Blättern die Nase über die erste Textseite senkte und alles für den Vollzug des Verrats bereit schien, traf ihn die Enttäuschung wie eine verdiente Strafe. Das Nachtlicht, das von draußen über die Zweigspitzen der Rotdornbüsche ins Zimmer strömte, reichte nicht aus. So fest er auch die Augen kniff, was er zu lesen glaubte, war schnell, bereits nach fünf, sechs Wörtern, Unsinn. Es stand gar nicht, wie es sich für ein Buch gehört, ohne sein Zutun da, es formte sich in seinem Kopf. Im Rückraum seiner Stirn war etwas, das seinem unbedingten Wollen gehorchen musste, jedoch bei aller kniefälligen Unterwürfigkeit nur Quatsch zustande brachte. Verbissen versuchte er es wieder und wieder und glaubte stets aufs Neue an die Richtigkeit des immer gleichen ersten Satzes. Der jedoch zog im Weiteren bloß frischen Unfug nach sich. Schließlich wurde das scheinbar Gelesene so peinlich närrisch, als begänne das dienstbare Etwas hinter seinen Augen ihn gezielt, mit der treffsicheren Bosheit des leibeigenen Dieners, zu verspotten.
Enttäuscht, aber vollends blank aufgekratzt, blätterte er mit zitternden Fingern tiefer in das Buch. Die Lettern wurden nicht größer oder schärfer, keine Zeile, kein einziges der Wörter fing an, für ihn zu leuchten. Dafür erfuhr er, dassselbst die grobe Rasterung, die flackernde Punktierung einer solchen Nacht zu etwas Eigenem taugt. Der Neumond ist nämlich auch ein Mond. Unter seinem diskreten Saugen hielten die Bilder nicht mehr still. Die Mutter hatte ihn dafür gelobt, wie säuberlich er Karte um Karte eingeklebt hatte, keine einzige war ihm über den feinen grauen Rand hinausgerutscht. Diese Begrenzung war nun nicht mehr zu erkennen, die ausgeblichenen Bilder hatten sie geschluckt. Vom Neumond, vom Schwundmond, waren ihnen nicht nur ihre Rahmen und Farben, sondern dazu die innere Festigkeit genommen worden. Der Raub hatte sie zur Beweglichkeit befreit. Deutlich genug konnte er den Puls des Geschauten im Handballen, auf den er seine Schläfe stützte, pumpen spüren. Die zart schnaufende Unruh machte die Einbuße der Buntheit mehr als wett. Wohlweislich ließ er das Blättern erst einmal sein. Mit den zwei Bildern, die aufgeschlagen waren, hatte er genug am Hals. Beide beatmeten die gleiche Landschaft, den gleichen Tag, die gleiche Stunde. Das linke gewährte einen weiten Ausblick. Er reichte über ein waldverwachsenes Tal hinüber zu einem Höhenzug, auf dessen kahlen Kuppen der Wind Rillen- und Zackenmuster in den Schnee gezogen hatte. Eis glitzerte in Felsenritzen. Den Vordergrund füllte zur Hälfte ein zottig behaartes Haupt. Die Hand, die den Blick gegen eine tiefstehende Wintersonne schirmte, presste Daumen und Zeigefinger auf eine niedere Stirn. Böen ließen Strähnen dunklen Haares um den Nacken des Wilden flattern. Neben seinem Schädel ragte fast das ganze obere Drittel eines Speers vor Anhöhe und Senke. Seine Spitze hatte sich aus dem Rechteck des Sichtbaren geschoben, aber sobald der Mann sich unter einen besonders stürmischen
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