Roman unserer Kindheit
Windstoß duckte, zuckten das fehlende Holzsamt einem flachen Feuerstein wie der für eine einzige Sekunde losruckende Zeiger einer sonst stillstehenden Uhr ins Bild.
Der zweite Einblick in die Tiefe der ungelesenen Geschichte holt den Bergzug ganz nah heran. Gewiss hat der Speerträger das Tal in den Zeilen, die dazwischenliegen, durchwandert, um von neuem aufzusteigen. Von seiner Waffe ist jetzt bloß das riemenumschlungene Mittelstück des Schafts zu sehen, vom Jäger selbst die wettergegerbte Faust, dazu ein Umhang aus verfilztem, grauem Fell. Die Felswand offenbart das Ziel, für das der Wilde den Weg durch den Talgrund, durch dessen verschneiten Urwald, auf sich genommen hat: Im Stein klafft ein geradliniges Viereck. Der Eingang einer Höhle ist so säuberlich türgleich in den nackten Fels gebrochen, als hätten die verantwortlichen Naturgewalten Humor beweisen wollen und etwas Kommendes, das Bauen unserer Spezies, in prophetischer Parodie vorwegzitiert.
Heute, da der Ältere Bruder im wunderbar warm gedämpften Licht des Kinderzimmers den Zwillingen und dem Ami-Michi das erste Kapitel der Geschichte vorliest, erwartet er diesen finsteren Eingang. Aber obwohl er sich keine Pause erlaubt, wollen sich das Felsenloch und das Panorama, das ihm letzte Nacht vorausging, nicht mehr erblättern lassen. Während er Satz an Satz reiht, in unterschiedlich hochgezogenen Bögen, so wie er es der Mutter abgehorcht hat, ist unser großer Bruder sicher, dass die beiden Bilder ganz vorn im Buch sein müssen, denn er kann sich deutlich an den Moment des Zuklappens erinnern. Nur der Umschlag und allerhöchstens ein halbes Dutzend Seiten deckten die Felsenhöhle. Dann presste sich seine linke Hand mit weitgespreizten Fingern auf das Titelbild, während der Daumender Rechten über den Rand des Buches schnappte, um es wie ein Riegel daran zu hindern, in nächtlichem Übermut selbsttätig aufzuspringen. Der unsichtbare Mond war schuld daran, dass er derart auf Nummer sicher gehen musste. Obwohl in beiden Bildern eine matte Wintersonne schien, hatte der Mond, der irgendwo da draußen vor dem Kinderzimmer, vielleicht hinter den Rotdornbäumchen, im toten Winkel der Garagen oder tief hinter dem Horizont seine Bahn beschrieb, dem Blick des Jägers eine besonders schlimme Gier und der Höhle eine ungute Tiefe zugewiesen.
Die Schicke Sybille hat ihre Mutter herumgekriegt. Der Hausarrest ist zwar nicht ausdrücklich aufgehoben, aber mit Einkaufstasche und Einkaufszettel losgeschickt zu werden, verrät dem Mädchen, wie weit sie es mit Traurig-aus-dem Fenster-Gucken und Brav-bei-allem-Helfen schon gebracht hat. Zum Glück ist im Hof keiner der Freunde zu sehen. Sybille spürt, dass die Mutter ihr noch durch den Vorhang hinterherspäht und es sofort verdächtig fände, wenn einer der Buben sie nun am gelben Block vorbei in Richtung Kreuztöterweg begleiten würde. Sie hat das Misstrauen, das ihre Mutter gegen ihre Freunde hegt, selbst verschuldet. Auf dem Höhepunkt der Erklärungsnot behauptete sie, die Jungen, die von der Ankunft des schnaufenden Treckers so hemmungslos begeistert gewesen seien, wie es einem Mädchen nie passieren könne, hätten sie als kaltblütige Kundschafterin in den rosa Block gesandt.
Am Geburtstagstisch schob es dem Ami-Michi, dem Wolfskopf und dem Schniefer vor Verblüffung die sonnengebleichten Augenbrauen in die Stirn, als sie nach reichlich Kuchen von Frau Böhm mit wenigen, aber scharfen Sätzenserviert bekamen, im Übrigen würde es richtig schlimmen Ärger geben, falls sie ihre Tochter noch einmal als Vorhut ihrer Neugier zu fremden Männern in die Wohnung schickten. Sybille durfte zunächst mit Bangen, dann stolz und hochzufrieden mitansehen, wie die drei Jungen den ungerechten Vorwurf, ohne mit einer Silbe zu widersprechen, schluckten. Der Ami-Michi hatte sogar noch ein richtig verlogenes, ein für seine Verhältnisse ultraheuchlerisches «Jawohl, Frau Böhm! Das kommt nie wieder vor!» hinausposaunt.
Beim Bäcker sind nur Erwachsene vor der gläsernen Theke angestanden, aber im Glöckchengebimmel der Tür von Tabak-Geistmann läuft Sybille der Schniefer gegen die Einkaufstasche. Er wartet draußen, während sie den Lotto-Zettel abgibt. Das zieht sich hin. Die ganze Prozedur – das Aufkleben der Banderole, das Stempeln und das Heraustrennen des Durchschlags – dauert extra lang, denn außer Sybille ist kein Kunde im Laden. Horst Geistmann nutzt eine solche Gelegenheit stets für eigentümliche,
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