Roman unserer Kindheit
scheinbar an den Haaren des Augenblicks herbeigezogene Fragen nach dem Befinden ihrer Mutter. Sybille ist das schon gewohnt und antwortet, was ihr halt in den Sinn kommt. Nie hat sie die geringste Lust verspürt, sich irgendetwas zu Herrn Geistmanns sonderbar umständlichem Wissenwollen zu denken. Es ist und bleibt ihr schnurzegal, was das Gefrage soll. Erst eine kleine Serie Sommer später, in einem besonders nassen September, der die wetterfühlige Orgel der Oberhausener Friedhofskirche wie nie zuvor keuchen und quarren lässt, soll ihr ein Licht aufgehen. Erst wenn Horst Geistmann dann, vom Anfang bis zum Ende der Beerdigung, unmännlich viele Tränen über die verräterisch schlecht rasierten Wangen strömen, wird unserer Schicken Sybille dämmern, wie tief die Schwächeging, die der nichtrauchende Tabakhändler für ihre lottospielende, schwarzgelockte Mutter hegte.
Der Schniefer nutzt die Warteweile und schlägt die eben erworbene, druckfrisch duftende Autozeitschrift auf. Er tut dies so behutsam, wie er es zustande bringt, weil sein Vater es nicht ausstehen kann, wenn er den Magazinen, die in Ordnern gesammelt werden, an einem Knitter im Umschlag oder an einem Eselsohr ansehen muss, mit welcher Ungeduld sein Sohn bereits vor ihm in ihr Inneres vorgedrungen ist. Schon mit dem zweiten Seitenwenden hat der Schniefer gefunden, was ihm am liebsten ist, was er ewig angucken könnte, ohne einen Blick auf den dazugehörigen Text zu vergeuden. Bloß den Namen saugt er sich aus der Bildunterzeile, um dann, dessen vier Silben murmelnd, vollends in Betrachtung zu versinken. Über das muskulös gekurvte Blech, über den silbrigen Draht der Speichenräder und hinein in das verchromte Gebiss der Kühlerverkleidung hüpft ihm jetzt die Musik. Kurz denkt er sich mit einem nebulösen und wohlig warmen Spaßgedanken, all das, was da so seltsam ruckelig ertönt, lückenhaft japst und stöhnt, ströme aus dem ovalen Rachen des halbfrontal fotografierten Renners. Als Sybille wieder zu ihm tritt und ihn fragt, woher die komische Musik denn komme, klappt er die Zeitschrift zu, blickt rechts und links an den Geschäften entlang, rückt noch drei Schritte von der Hauswand ab, um an ihr hochzuschauen. Kein Fenster steht offen. Wahrscheinlich hat Doktor Junghanns, dessen dunkelblauer Schlitten ein Stückchen weiter vor Lebensmittel-Vetterle geparkt ist, vergessen, das Autoradio abzudrehen, und weil er Arzt ist, hört er eine besondere Sendung, eine, die nicht nur seine Eltern, sondern, der Schniefer ist sich sicher, sämtliche Eltern derNeuen Siedlung dazu bringen würde, sich schleunigst zur nächsten UK W-Station zu flüchten.
Sie laufen hin. Aber schon bevor sie sich zum vollständig herabgekurbelten Fenster der Fahrertür hinneigen, ist hörbar klar, dass die Töne einen anderen Ursprung haben müssen. Den Schniefer kümmert das nicht weiter. Viel lieber nutzt er die Gelegenheit, schiebt Kopf und Schultern ins Wageninnere, um sich dort endlich einmal alles aus nächster Nähe anzusehen. Tief einatmend, hält er den Duft des Junghanns’schen Rasierwassers für den Geruch des Leders, das sich in prachtvoll prallen blauen Wülsten über die vordere und hintere Sitzbank spannt. Er legt die Zeitschrift seines Vaters auf dem Platz des Fahrers ab und greift mit beiden Händen an das Lenkrad, dessen gepolsterter Innenkreis mit der gleichen blaugefärbten Rindshaut prunkt. Er drückt, weil er sich auskennt und weil er sich traut, den elfenbeinfarbenen Hebel der Lenkradschaltung, lässt ihn wieder nach oben federn, und dann studiert er die Zahlen auf den Armaturen. Sybille aber, die Autos nicht viel abgewinnen kann, geht der inzwischen wimmerig dünn gewordenen Musik entgegen. Mit jedem ihrer Schritte wird das Gehörte ein Quäntchen leiser. Zwischen dem letzten der neuen, erst im Frühjahr in die Mauern gebrochenen Panorama-Fenster von Lebensmittel-Vetterle und dem ersten Schaukasten der Sparkasse ist es dann so weit. Zeitgleich mit einem kümmerlichen Pianissimo, mit einer Folge verlorener, flötenhoher Töne, jeder so flatterig dünn wie Butterbrotpapier, sieht sie, wo die Musik gemacht wird.
Sybille staunt über die Lücke. Obwohl sie hier fast jeden Tag zu Fuß oder auf dem Rad vorbeikommt, begreift sie zum ersten Mal, dass die Häuser der Ladenreihe an dieser Stelle dieSchultern nicht ordentlich aneinanderdrücken. Aus irgendeinem Grund müssen die zweigeschossigen Gebäude hier Abstand voneinander halten. Würde Sybille versuchen,
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