Roman unserer Kindheit
den Spalt mit ihren Armen auszumessen, könnte sie, hin- und herschaukelnd wie das auf den Kopf gestellte Pendel einer alten Uhr, eben noch mit den Fingerspitzen an die fensterlosen Brandmauern tupfen. Der Raum, der sich dazwischen auftut, ist nur ein kleines Stück weit gangbar. Bereits nach wenigen Schrittlängen verschließen ihn mannshohe, grau verblichene Bretter, auf deren Oberkante sich rostroter Stacheldraht zu einer engen, in sich verhakten Spirale dreht.
Vor dieser blickdichten Barriere, auf dem kurzen freien Fleck zwischen den Mauern, ist eine Decke ausgebreitet. Eine fast weiße Schäferhündin – so schön könnte ein Rüde niemals sein! – hat ihre Schnauze unter den rötlich schimmernden Schweif geschoben. Ein steifer Bügel, ein in der Hand ihres Herrchens dunkel und speckig gewordener Haltegriff ist dem Tier aufs Fell gesunken. Das lederne Geschirr, das den Brustkasten doppelt umspannt, scheint die Hündin beim Dösen nicht zu stören. Als die Musik nun plötzlich mit Wucht, mit Druck und Sog neu einsetzt, läuft ihr ein Zucken über den Rücken, und auf dem starken Nacken stellen sich die Haare auf. Besser noch als ein Mensch muss diese Hündin, Sybille ist sich da ganz sicher, spüren, wie erzverkehrt die Töne aufeinanderfolgen. Aber weil man sie in der Blindenhundschule gelehrt hat, dass Duldsamkeit zu ihrem Tierberuf gehört, reißt sie sich brav zusammen und schafft es wieder einmal, nicht gegen das Gehörte anzuheulen. Und auch das Instrument sieht anders aus, als Sybille es für richtig hält. Dort, wo es Tasten geben müsste, dort, wo die Quetschkommode an ein Klavier erinnern sollte, ragen genau wie aufder anderen Seite perlmuttfarbene Knöpfe aus dem schwarzglänzenden Gehäuse. Der Mann mit der dunkelgrünen Brille drückt sie nun, vielleicht um vor ihr mit seiner Fertigkeit zu protzen, links so rasant wie rechts. Dabei neigt er den Kopf merkwürdig schief über den Faltbalg, als könnte er so – ist er nicht blind? – am Rand des Brillengestells vorbeischielen und die fliegenden Fingerspitzen überwachen.
Da tritt, dicht neben unserer Sybille, Herr Doktor Junghanns vor Hund und Decke. Sein Blick sucht nach einer Mütze, nach dem obligatorischen Bettelhut oder nach einem alten Teller, auf dem sich die hingeworfenen Münzen mit einem Klappern bemerkbar machen könnten. Aber er findet nur ein Stück graue Pappe, auf das mit Tintenblei «Es spielt für Sie der Fehlharmoniker!» gekrakelt ist. Ernst Junghanns öffnet sein Portemonnaie, reicht Sybille eine der beiden großen, noch silbrig blanken Münzen, die vorhin in der Sparkasse zusammen mit einer Handvoll ebenso neuer Scheine auf ihn zugeschoben worden sind, und zeigt auf den Karton. Sybille signalisiert mit einem doppelten Nicken, dass auch sie die Aufschrift entziffert hat und das Geldstück weitergeben wird, sobald der Akkordeonist den nächsten Schlusston findet.
Ich kann nicht buchstabieren. Aber ich schaue das in meinem Sommer Aufnotierte einfach so lang grimmig an, bis es mir nicht nur seinen Wortlaut beichtet, sondern sogar sein Ungeschriebenes gesteht. Die wesentlichen Schriftstücke, der Kanon meiner Wochen hätte in einer Kiste Platz. Alle Bücher, Zeitschriften und Zettel, alle Druckwerke, die den Kindern während der Ferien noch sinnträchtig vor Augen kommen, passten in einen Bauchladen – so hoch und breit und tiefwie das diatonische Akkordeon des Fehlharmonikers. Er und Sputnik, seine treue, schöne und starke Schäferhündin, sind heute Morgen in aller Frühe aufgebrochen, bald nachdem im Speisesaal des Kriegsversehrtenheims das Frühstück aufgetragen worden war. Der Fehlharmoniker hatte sich seine Brote zum Mitnehmen selbst geschmiert. Mit dem Bus ging es durch Oberhausen, durch den östlichen, immer noch dorfähnlichen Teil der Vorstadt, dann hinein in die Unterführung und den Berg hinauf. Sputnik stand an der dritten Tür, der Doppelfalttür im Heck des Busses, und beugte den Nacken, um durch eines der unteren Glasfelder hinausschauen zu können.
Sputnik will immer alles sehen. Sie weiß, was ihrem Herrchen fehlt, und hat gelernt, wie wichtig ihre Vorausschau ist, sobald sie sich gemeinsam durch die Gelände der Welt bewegen. Der Fehlharmoniker hat seinerseits begriffen, dass Sputnik «ich» seinem Männerkörper und «du» dem eigenen befellten Leib zuordnet, dass sie hingegen ihren Namen nicht für eine feste Benennung ihrer selbst, sondern je nach Intonation als ein Befehls-, Lob-, Kose- oder
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