Roman unserer Kindheit
Mahnsignal versteht. Von Anfang an konnte sie zudem in seinem Reden das trottelige Alltagsräsonieren, das seltene Sich-Wundern und die noch rareren Momente der Freude und der freudigen Erwartung unterscheiden. Ja, Sputnik merkt glücklich auf, sobald die Melodie eines Satzes verrät, dass ihr Herrchen einem kommenden Geschehen mit höher gestimmtem Mut entgegensieht. Und weil der Fehlharmoniker seiner treuen Gefährtin dergleichen nicht oft bieten kann, neigt er zur Übertreibung, wenn doch einmal Erquickliches ins Haus steht. «Da freut sich doch der Hund! Da freut sich Sputnik doch mit ihrem Fehlharmoniker!», hat er ihr gestern zugerufenund dann erneut sein Restlichtauge, das rechte, das noch einen hellen Halbmond in das Finstere schneidet, im bestmöglichen Winkel über die ihm eben von Fräulein Schößler ausgehändigte Postkarte gedreht. Sputnik war sogleich aufgesprungen, schlug kraftvoll mit dem Schweif gegen das Tischbein und bellte einmal so kurz und präzis, wie es ihr als Signal erlaubt ist.
Fräulein Schößler, die im B-Trakt mehr als nur eine Chefin ist, das strenge, am Ersten des Monats vierzig Jahre alt gewordene Fräulein Schößler, die vor dem Mittagessen die Post verteilt und sie im Laufe des Nachmittags, sofern es ihre Zeit erlaubt, den Blinden und Schwerstsehbehinderten auch vorliest, hatte sich jede Bemerkung verkniffen, doch Sputnik und sein Herrchen spürten, wie viel Kraft es die große und starkknochige Frau kostete, sich nicht vor dem Empfänger über das Empfangene, über das Postkartenbild, zu entrüsten. Wer dergleichen ohne Kuvert bekam, war selbstverständlich schuld an dem, was andere sich dazu denken mussten. Während die Karte sekundenkurz von vier Fingerspitzen, von einer Männer- und von einer Frauenhand, gehalten wurde, hallte ein innerer Empörungslaut, ein lautloses, aber auch in Gedanken säuberlich artikuliertes «Pfui» durch Fräulein Schößler. Ohne noch einmal hinschauen zu müssen, hatte sie das Bild vollständig vor Augen, und es wird ihr in den verbleibenden Tagen meines Sommers immer wieder, jedes Mal, wenn ihr aus dem Mund irgendeines versehrten Flegels etwas einschlägig Ungehöriges zu Ohren kommt, überdeutlich vor das innere Auge steigen. Nächtlicher Nebel senkt sich auf einen See; ein Steg führt von unten, vom gewellten Rand der Karte, hinaus auf die schwarzgrau marmorierte Wasserfläche. Die reine Kühle des Gewässers könnte demkeuschen Naturfreund im Betrachter schmeicheln, aber die Schulter, die sich von rechts in den Vordergrund geschoben hat, ist weiblich splitternackt und wird von langem weißen, also nachtblonden Haar umflossen. Die Neigung des bloßen Rückens und der Schattenfall der angespannten Muskeln verraten, dass der Zug eines schweren Busens ausgeglichen werden muss. Nichts weniger als einen unverhohlen brünstigen, nichts weniger als einen mittsommergeilen Norden verheißt das Bild.
Die Rückseite setzt der nächtlichen Szene dann noch eine Pointe auf. Das Schriftfeld links neben der Adresse scheint zunächst leer. Aber genau besehen, lässt sich doch eine Mitteilung erkennen. Das wachsame Fräulein Schößler, die dies bereits beim Sortieren der Post bemerkt hatte, war außerstande, sich einen Reim darauf zu machen. Auch deshalb warf sie die Tür des Zimmers heftiger als sonst ins Schloss. Der Fehlharmoniker drehte die Karte vor dem guten Auge, bis er das Rillenlabyrinth eines eigens für diesen Abdruck mit Öl, mit braunem Motorenöl verschmutzten Daumens in den Blick bekam. Sputnik tapste heran, um sich auf ihre Weise der Karte anzunehmen. Sie roch den Leim, der das Papier versteifte. Sie roch die Seife von Fräulein Schößler zusammen mit säuerlichen Spuren ihrer Fingerschwitze, und dann witterte Sputniks feingenarbte und feucht glänzende schwarze Nase vor allem anderen nur noch die Aufregung, die Freude ihres Herrchens, die sich als ein aromatischer Großtext aus dem Ärmel seines Baumwollhemds auf die erhaltene Botschaft, auf den Ruf, ergoss.
Sonnentag
Der Mann ohne Gesicht ist ein Betrüger. Ohne Zögern, ohne auch nur mit einem seiner wimperlosen Lider zu zucken, hat er sich für Lug und Betrug entschieden, als er erfuhr, dass keine der Wohnungen in den fünf Blöcken an eine Einzelperson vermietet werden darf. Eine Familie musste her. Folglich hat er auf dem Wohnungsamt außer sich selbst, dem Schwerversehrten, noch seine einstige Kriegsverlobte als Gattin angegeben. Damals, nach seinem Missgeschick, nach dem
Weitere Kostenlose Bücher