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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Gesichtsverlust, war er ihr anstandshalber nicht mehr vor die vergissmeinnichtblauen Augen hingetreten. Inzwischen weiß er auch, dass sie nicht mehr unter ihrem Mädchennamen im Adressbuch steht, er wünscht ihr alles Gute und hofft, sie muss niemals erfahren, wie dreist er sie auf dem Papier des Antrags noch einmal in sein Leben eingespannt hat. In seine falsche Frau hinein erfand er einen angeblich bereits gezeugten, noch ungeborenen Nachwuchs, sog sich sogar einen anrührenden Geburtstermin, den Tag nach Heiligabend, aus den Fingern. Dieses erlogene Christkind gab dann den Ausschlag für die Sofortzuteilung der eben durch Wegzug frei gewordenen Zwei-Zimmer-Wohnküche-Bad im rosa Block.
    Der Mann ohne Gesicht kann abschätzen, wie lange er auf seine kleine Phantomfamilie setzen darf. Die Unterlagen, auf die das Amt noch wartet, will er morgen in Arbeit geben. Im Affentanz, der übelsten, der besten Ami-Kneipe Oberhausens,saß früher jeden Freitagabend hinten am Tisch neben der Tür zum Klo einer, der sich mit dem Vergilben von Papier, mit dem Verblassen der Tinten, mit Briefköpfen und mit dem Schnitzen von Stempeln ausgekannt hat. Mit etwas Glück sitzt dieser hilfsbereite Fachmann, den sie damals salopp den Stempler nannten, noch immer dort. Die Behörde wird erst einmal Ruhe geben, wenn sie mit amtlich Scheinendem gefüttert ist.
    Leider gibt es noch einen zweiten Herd bürokratischer Gefahr. Drei Parallelstraßen vom Drosselgrund entfernt residiert im Elsternhorst ein Adolf Liebknecht als Beauftragter der städtischen Wohnungsbaugesellschaft. In sein Büro trägt man Bitten und Beschwerden aller Art. Günstigerweise ist dieser Liebknecht vor einer guten Woche auf Kur gegangen. Eigentlich wider Willen. Aber von seinem Hausarzt Doktor Junghanns war ihm keine andere Wahl gelassen worden. Der linke Restarm, der sich lang lammfromm in seine lederne Prothesenmulde schmiegte, ist seit dem Frühjahr chronisch, richtig bös, entzündet. Der Briefträger hat dem frisch Eingezogenen dies und bereitwillig noch mehr erzählt. Und sobald Liebknecht mit sediertem Stumpf in den Elsternhorst heimgekehrt ist, wird derselbe mitteilungsfreudige Postler gewiss gar nicht anders können, als bei erster Gelegenheit beiläufig zu verraten, dass der Neue im rosa Block noch immer allein in fast leeren Zimmern hause und von einer Frau und einem etwaigen Kind, so weit das Auge guter Nachbarschaft auch reiche, bis jetzt nicht das Geringste zu sehen gewesen sei.
    Es klingelt. Der Mann ohne Gesicht hört heraus, dass es nicht Sybille sein kann. Nie würde das patente Mädchen mit einem derart verdrucksten Stotterbimmeln beginnen und dann solch ein übertrieben langes, fast panisches Dauerläutenfolgen lassen. Als er öffnet, erkennt er in dem Jungen, der draußen steht, einen ihrer Freunde. Das Kerlchen, das da mit verlegenem, zum Fußabstreifer ausweichendem Blick ums erste Wort ringt, war dabei, als die Couch unten am Rosenhang hochkant aufgestellt und umgeworfen wurde, um die Blockade ihrer Kippmechanik mit kindlicher Schläue und Gewalt zu brechen.
    Dem Ami-Michi ist ganz heiß und kalt. Heiß glüht ihm das Gesicht, kalt schaudert es ihn dort, wo der obere Rand seiner Lederhose von dem Hohlkreuz absteht, das in der Familie seiner Mutter erblich ist. Er kennt das komische Heißkaltgefühl seit langem, er kennt es besonders gut aus den letzten Sommerferien, in denen dieser Neger mit den glänzenden Knöpfen, mit den Spiegelknöpfen, anfing, seine Mutter zu besuchen. Sybille, die mehr mitkriegt als die anderen seiner Freunde, und die das Karussell der Tage viel besser als die Jungen in wiederkehrende Segmente zu portionieren versteht, hat damals im Voraus sagen können, wann es erneut so weit sein würde: «Morgen kommt der Spiegelneger wieder!» Prompt hatte seine Mutter die alte Armbanduhr, die sie mit anderem Kram in ihrer Nachttischschublade verwahrt, aufgezogen und so gestellt, dass ihr Nachgehen für die nächsten beiden Stunden ausgeglichen war. Dann wurde sie ihm in die Messertasche seiner Lederhose gesteckt, damit er durch das rechteckige, von innen mit feinen Tröpfchen beschlagene Uhrglas ablesen konnte, bis wann er sich nicht in der Wohnung blicken lassen durfte.
    Sybille hat ihn nicht bestochen. Das Geldstück, das er jetzt in seiner Hosentasche um die Fingerspitzen dreht, soll ihn zu nichts verführen, sondern ihn bloß in seinem Erkundungsmut bestärken. Sybille kennt ihre kleinen Männer. Der Ami-Michiist derjenige unter

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