Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
Vom Netzwerk:
ihnen, der am meisten Angst vor Gespenstern hat. Wenn der Ältere Bruder, was alle lieben, was sogar Sybilles launische Schwester stets begeistert, eine Geschichte mit mondbeschienenem Friedhof, mit zielstrebig herumtorkelnden Skeletten und mehr oder minder angefaulten Toten zum Besten gibt, beißt sich der Ami-Michi, ausweglos lauschend, so heftig in die Unterlippe, bis es blutet. So kennt Sybille ihn.
    Aber so kennt sie ihn auch: Im linken Kellergang waren die Glühbirnen der beiden Deckenlampen kurz nacheinander durchgebrannt. Hausmeister Krausser, der faule Streber, wie ihn Sybilles Mutter nennt, ließ sich mit dem Reinschrauben neuer Birnen wieder einmal ewig Zeit. Die Freunde standen vorn in den Rahmen der Tür zum Treppenhaus gedrängt. Von hinten, von ganz hinten aus dem Finstern, vom Ende des im Dunkeln entsetzlich langen Gangs, wo es zuletzt noch um die Ecke in einen allerletzten Winkel ging, wo ein verstaubter Gasherd stand und blöderweise auch mit frisch geflicktem Reifen der Roller von Sybilles kleiner Schwester, von dort hörten sie erneut ein kurzes, aber ganz schlimm deutliches Geraschel. Da war etwas. Nacktfüßig, nacktpfotig, gewiss mit tückisch eingezogenen Klauen war etwas am Lauern. Die Lichtlosigkeit der letzten Tage hatte etwas Lebendiges aus den Backsteinen gesaugt. Dahinten, wo der Roller am Gasherd lehnte, war hinter kohlenstaubschweren Spinnweben ein Irgendetwas ausgebrütet worden. Die Zwillinge rannten schnell hoch, um ihre Taschenlampen herzuholen. Aber dann waren in keiner die Batterien stark genug. Ihr Doppelschein verging bereits auf Höhe des zweiten Abteils, durch dessen Holzgitter ein fahler Rückglanz allen sagte, wie exakt lotrecht dort vor kurzem die von Herrn Roser zumSommerpreis erworbenen Briketts bis dicht unter die Decke hochgestapelt worden waren.
    Sybilles Schwester hatte zu maulen aufgegeben. Der blöde Roller sollte bleiben, wo er war. Jedem schien der gemeinsame Rückzug eine wortlos beschlossene Sache. Sybille und unser großer Bruder schämten sich als die Ältesten bereits dafür, dass sie gleich eine der Mütter um Hilfe würden bitten müssen. Sie waren drauf und dran, eine Bande von elenden Feiglingen abzugeben, als plötzlich der Ami-Michi, heulend wie toll, in die Schwärze stürmte, hinten ums Eck verschwand, um dann, nicht gleich, sondern schaurig verzögert – was, um Himmels willen, machte er so lange dort? – mit einem neuen, nun gellend triumphierenden Geschrei, den Fuß auf dem Trittbrett des Rollers, ins Helle, in das Licht, das seine Freunde warm umstrahlte, zurückzusausen.
    Am Tisch des Manns ohne Gesicht versucht der Ami-Michi sich, wie es ihm der Ältere Bruder aufgetragen hat, das Ritzbild einzuprägen. Es fällt ihm schwer. Sybille hat ihm zwar gesagt, es seien Striche und Kästchen ins Holz gekerbt, aber davon, wie seltsam bunt der Tischplan ist, hat sie ihm und den anderen Freunden nichts erzählt. Das komische Blaugrün des vorletzten Kästchens, dessen genauer Name ihm jetzt nicht einfällt, zwingt den Ami-Michi, sobald er sich das ganze Muster merken will, voll Tücke dazu, sich stattdessen das gleichfarbige Hemd des Spiegelnegers vorzustellen. Daran will er partout nicht denken. Er ist heilfroh, dass seine Mutter seit dem Frühling wieder einen weißen Ami-Onkel als Besuch empfängt. Dazwischen, den ganzen Winter lang, hat sich kein einziger Amerikaner blicken lassen, und diese onkellosen Wochen waren auf ihre eigene Weise eine schwer erträgliche Zeit. Die Mutter weckte ihn morgens bloßmit einem mürrischen Ruf durch die geschlossene Tür, verschwand sofort wieder im Bett, sogar sein Pausenbrot hat er sich selber schmieren müssen. Und wenn der Vater jedes zweite Wochenende von seiner Tour zurückkam, wenn ihn der Kollege, von dem der Lastwagen samt Anhänger übernommen worden war, heimgefahren hatte, gab es sofort Streit.
    Auch mit dem Spiegelneger hatte sich die Mutter abschließend noch schlimm gestritten. Der Ami-Michi war am letzten Negerbesuchstag kein bisschen zu früh in die Wohnung zurückgekehrt, er hatte, um sicherzugehen, extra noch eine halbe Runde des langen Zeigers mit dem Hineingehen gewartet. Aber als er in der Wohnküche den Kühlschrank aufzog, um sich die angebrochene Limonadenflasche herauszunehmen, hörte er zuerst die mütterliche Stimme, dann das Organ des schwarzen Mannes aus dem elterlichen Schlafzimmer herüberklingen, und schon schimpften die beiden wild auf Amerikanisch los, als hätte ihnen ein einziges

Weitere Kostenlose Bücher