Roman unserer Kindheit
«B» und so Zeile auf Zeile alle Kombinationsmöglichkeiten durchprobieren. Und dann verspricht sie dem, der das Verhältnis von Zahl und Bild beim nächsten Wurf errät, das ganze Geld, das sie noch hat. Nach einem Grunzen, wie nur er es zustande bringt, entscheidet sich der Wolfskopf für: «Fünf Zahl, ein Bild!» Sybille wirft. Der Wolfskopf hat es getroffen. Ohne einen Moment zu zögern, sogar erleichtert darüber, alles loszuwerden, schiebt ihm Sybille die silbrige Münze und die fünf messingfarbenen hin.
Die Mutter dieses Kleingelds hat Sybille gestern unterschlagen. Die große sparkassenblanke Münze, die ihr Doktor Junghanns gegeben hatte, ist nicht in die Hände gelangt, die auf den Knöpfen des Akkordeons alles umgehen, was Sybille an Musik am liebsten mag. Sie hat das Geld für sich behalten. Nun ist es glücklich restlos ausgegeben. Der Wolfskopf verstaut den frisch errungenen Gewinn in dem Täschchen, das die Träger seiner Lederhose vor der Brust verbindet. Stück für Stück taucht in den Schlitz des Reißverschlusses, und Sybille denkt erneut, dass Doktor Junghanns wohl richtig sauer wäre, wenn er wüsste, was aus seiner Spende für Musiker und Hund geworden ist. Den Blick auf die Rillen des sonnenhellen Cords gesenkt, stellt sie sich mit wohligem Grusel vor, wie der Siedlungsdoktor die Weißwandreifen seines Autos vom Bordstein weggelenkt hat. Schon sieht sie riesengroß, wie er mit dem rechten seiner feingelochten Schuhe Gas gibt, wie er das Lenkrad dreht und einen letzten Blick in den Rückspiegel wirft. In dessen chromgerahmtem Rechteckist nun ihre Hand. Die Hand der schlimmen, der sündigen Sybille fährt am Schenkel entlang unter den Rock. Dennoch drückt Doktor Junghanns stärker auf das Pedal. Mit einem Klick – der Schniefer hat es ihr vorgemacht! – schaltet er in den zweiten Gang. Zugleich zieht ihm der Spiegel die Rückschau so nah heran, dass jeder, der mit ihm ins Glas guckt, genau erkennen kann, wie das Mädchen die große Münze hinter dem Gummizug des Schlüpfers verschwinden lässt.
Mein liebes Sybillchen, die Sybybibillebe meines Sommers, soll bald erfahren, dass der Fehlharmoniker nicht restlos blind ist. Sie ahnt es schon, aber noch krümmt sich vor dem Schwanzende der Einsicht der schwarzfellige Rücken unseres Monats zu einem Katzenbuckel. Gestern, als sie die Glöckchen von Tabak-Geistmann ein drittes Mal zum Klingeln brachte, ließ hinter ihr, in der Lücke zwischen den Häusern, der Musiker die Verschlüsse seiner Aktentasche aufschnappen, um sich ein erstes Wurstbrot herauszuholen. Sybilles Hand löste sich von der Klinke der Ladentür. Gleich mit dem ersten diebisch freien Schritt hinein schien das Geschäft ihr schummriger und zugleich größer als noch vor zehn Minuten; vor allem roch es nun, wo sie mit eigenem Geld kam, bei weitem stärker nach Tabak. Draußen, im Sonnenlicht, hielt der Fehlharmoniker seiner Hündin eine Scheibe Wurst hin. Sputnik schleckte erst sorgfältig die glänzende Butter ab, bevor sie sich das Rädchen auf die Zunge legen ließ. Drinnen im schattigen Laden schob Horst Geistmann den Kasten mit den Wundertüten ganz nach vorn, damit Sybille, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen, auch die hinteren Tüten befühlen konnte. Dann wandte er sich ab, ordnete die Zeitschriften im Regal, weil er, der musikalisch Einfühlsame,längst begriffen hat, dass die Kinder es hassen, wenn man ihnen bei der heiklen Auswahl auf die Finger guckt. Sybille rechnete noch einmal still für sich aus, wie viel das Ganze kosten würde. Währenddessen suchten die Finger von allein. Sie wusste, man machte die besten Funde, wenn man beim Abtasten der Wundertüten nicht an deren verborgenen Inhalt, sondern, so fest es ging, an etwas anderes dachte.
Draußen floppte der große Korkstöpsel aus dem Glasschlund der Thermosflasche. Sputnik drehte die Schnauze in Richtung ihres Herrchens, vermied es aber, dem aufsteigenden Kaffeedunst allzu nah zu kommen. Sybille zog eine Tüte heraus, um sie an einer anderen Stelle wieder hineinzustecken, und spürte, dass sie damit das richtige Verfahren gefunden hatte. Horst Geistmann, der die Tüten schaben und rascheln hörte, ging in die Hocke, um die Zeitschriften, die ganz unten lagen, sauber, Kante auf Kante, auszurichten. Sybille mischte die Wundertüten. Sybille mischt sämtliche Tüten gründlich durch. Der Fehlharmoniker schnuppert am Kaffee und freut sich über die Stärke des Dufts. Zum ersten Mal ist es ihm
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