Roman unserer Kindheit
heute früh gelungen, die Flasche nicht mit der normalen Brühe, sondern mit dem Aufguss gefüllt zu bekommen, den das Personal des Heims zum Frühstück trinkt. An einem brennnesselscharfen Jucken in den Fingerspitzen spürt Sybille, dass die richtigen fünf Tüten hintereinanderstecken. Sie fasst sie beidhändig, nimmt alle in die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger und zieht sie so, als einen Pack, heraus. Der Fehlharmoniker schlürft vorsichtig am Becher, verschluckt sich dann aber doch, als er den starken Blick oberhalb seiner Blindenbrille, über den Augenbrauen, auftippen fühlt. Sputnik ist aufgestanden, ihr Schweif schlägt zweimal gegen sein rechtes Knie. Das heißt, es handelt sichum einen Mann. Der Fehlharmoniker weiß nicht, ob seine Hündin das Geschlecht eines Menschen riechen oder an der Kleidung erkennen kann. Er nimmt die grünen Gläser ab, legt den Kopf schief in den Nacken, weil er steil nach oben linsen muss. Auf Anhieb hat er den Kerl im Sehstreif. Die Schnalle seines breiten Ledergürtels, das rot-blau karierte Baumwollhemd und dann, was vom Gesicht noch übrig ist. Viel ist es nicht, aber zur Not kann man einen alten Kameraden auch an der Art, wie er aus seinen Augen guckt, erkennen.
Ein jeder guckt, so gut er kann. Mir dehnt sich meine Panorama-Schau hinunter bis ans Ende des Drosselgrunds, wo im vorletzten Block der Kikki-Mann zwischen den Käfigen seiner Vögel am Boden liegt. Sein Hinterkopf pocht an die Dielen. Weil er sich, wie es ihm bei fast jedem Anfall widerfährt, in die Zunge gebissen hat, fließt Blut aus seinem linken Mundwinkel, erreicht als Rinnsal die Kinnlade und schafft es noch ein Stück den Hals hinunter. In der Kehle des Kikki-Manns gurgelt der Name seiner Frau. Es sind die männlich tiefen Töne, die man sonst nie von ihm zu hören bekommt. Nur ich und zwei uralte, in fünfjähriger Unverkäuflichkeit weise gewordene Sittichweibchen können das Margot-Margot-Gurgeln des Taubstummen verstehen. Die anderen Krummschnäbel, die komplette, notorisch hektische Bagage, und die an heißen Tagen noch nervöseren Kanarienvögel steigern sich in kollektiven Aufruhr. Sie schreien und flattern, wirbeln den Flaum vom Käfigboden und hängen mit ihren hornigen, ganz und gar reptilienartigen Füßchen an den Gitterstäben. Aber es ist nicht dieser Vogelhöllenlärm, der Hilfe herbeizieht. Unten in einer der Wohnungen, die die Huhlenhäusler in Beschlag genommen haben, hört man den Schädel des Gekrampften auf die Dielen klopfen.
Die Huhlenhäusler verstehen das Pochen zu deuten, und sie wissen, dass der Kikki-Mann, seit seine Margot ihn verlassen hat, allein lebt. Also wird einer hochgeschickt, um nach dem fallsüchtigen Nachbarn zu schauen. Der Kikki-Mann passiert den Wendepunkt des Anfalls. Noch sieht er nichts als eine hellgraue Fläche und in deren Mitte einen weißen Fleck, der zuckt, als würde hinter einer Zellophanmembran ein Licht in hektischem Wechsel an- und ausgeknipst. Aber er ist schon wieder in der Lage, aus seinem Kopf hinauszuhorchen und das Gehörte halbwegs korrekt zu deuten. Das Türschloss schnappt, die Angeln seufzen. Während Schritte den Flur durchmessen, kehrt das verständige Sehen zu ihm zurück. Sogleich tun ihm die Augen weh. In der schlimmen ersten Hälfte des Anfalls stehen seine Lider stets starr auf halber Höhe, und die Hornhaut trocknet aus. Er weint, so gut er kann. Schon geht die Tür zu seinen Füßen auf. Drei Schritte sind es noch an seinen Kopf. Durch die Tränenschlieren sieht er den weißen Schopf, die hellen, taubengrauen Augen und die feingetupften Sommersprossen von Achim, den die Kinder, obwohl der Ältere Bruder das tolle Wort «Albino» im einbändigen Lexikon der Eltern gefunden hat, lieber weiterhin den Weißling nennen. «Üchüm!», kiekst ihm der Kikki-Mann entgegen und sprüht seinem Nachbarn, der bei ihm auf die Knie gesunken ist, mit dessen Namen feine Tröpfchen Blut in das Gesicht. «Üchüm! Dü glüübst nücht, wüs mür gürüdü üün klüünüs Müdchün üm Trüüm ürzühlt hüt. Züm zwüütün Mül schün! Üünüs dür Süüdlüngskündür süll ürmürdüt würdün!»
Sonnentag
Der Vater des Ami-Michi hat Ernst gemacht. Oft hat ihn seine Frau mit seinem Traum verspottet. Oft hat sie ihm höhnisch unter die Nase gerieben, dass er auch in dieser Hinsicht ein Möchtegern und Sprücheklopfer sei. Arg oft musste der Ami-Michi, der seinen durch ferne Länder dieselnden Papa liebt und bewundert, mitansehen, wie sie
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