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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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schlimm schmerzenden Hand zu lauschen. Unser beidhändiger Boxer mit den noch immer stupenden, einst sagenhaft gewesenen Reflexen musste sich beim Waschen und beim Anziehen frischer Kleider helfen lassen. Er putzte sich mit links die Zähne, kämmte die Haare mit Frisiercreme, schlürfte schweigend neben seiner Frau Kaffee auf Kaffee. Er horchte am Säuseln des Radios und dann am ersten Amseltrillern vorbei, zog einhändig die Vorhänge zurück, knipste das Licht über dem Tisch aus, machte sich schließlich auf den Weg. Als Erster saß er im Wartezimmer von Doktor Junghanns, das Montag bis Samstag von dessenPutzfrau aufgeschlossen wird. Die saugt die Räume durch, wischt das Linoleum noch zusätzlich mit einem scharf riechenden Bodenpflegemittel, und um Punkt sieben ruft der Doktor, weil es seine Sprechstundenhilfe, die ihre Kinder für die Schule fertig machen muss, nicht vor halb acht zur Arbeit schafft, seine Patienten selbst ins Behandlungszimmer. Der Vater hatte sich eine umständliche Geschichte zurechtgelegt, rund um ein Brotmesser, dessen Klinge frühmorgens im harten Laib abbricht. Aber der alte Arzt winkte den schlecht schwindelnden Maurer bereits nach zwei, drei Sätzen wie einen Läufer nach dem Fehlstart ab und wollte bloß wissen, ob die Sache von der Polizei aufgenommen worden, also als eine Strafsache aktenkundig geworden sei.
    Der Ältere Bruder und die Zwillinge haben die versehrte Hand dann erst in ihrem blütenreinen Verband gesehen. Der Vater frühstückte mit ihnen, war sichtlich müde, auf eine milde Weise gut gelaunt, wollte jedoch nichts Genaueres von dem erzählen, was er einen wirklich ganz blöden Arbeitsunfall nannte. Aber die Wahrheit kommt ans Licht. Mit fünfstündiger Verspätung erfahren die Brüder im nachmittäglichen Vogelgezwitscher der Schrebergartenkolonie, welches Geschehen ihnen von den Eltern gemeinsam verschwiegen worden ist. Bis auf unseren großen Bruder sitzen die Freunde oben im Kreis, fühlen sich dem blendend blauen Himmelsbrett zum Schwindligwerden nah, fahren, um den Schwindel abzuschütteln, die buckligen Falten der Teerpappe mit den Fingerspitzen ab und haben eigentlich alle keine rechte Lust zum Reden. Da kommt der Wolfskopf, dem es urplötzlich wieder eingefallen ist, stockend und stotternd in Fahrt, und ohne sich lange mit einleitenden Worten aufzuhalten, klärt er die anderen auf.
    Der Wolfskopf-Vater ist auch im Affentanz gewesen. Mit einem Kumpel aus dem Gaswerk stand er an der Theke, während ein Schwarzer dem Nachbarn aus dem grünen Block beim Siebzehnundvier ein Scheinchen nach dem anderen aus der Börse zog. Zufällig guckte er wieder hinüber, als man bereits in anderer Besetzung spielte und es zum Eklat kam. Er wurde Augenzeuge der Attacke wie ihrer Abwehr, und weil der Vater des Wolfskopfs sich vor seiner Ehe selber gern geprügelt hat, ist ihm die Geschichte am nächsten Morgen beim Frühstück mit seiner Frau, bei Rührei und Speck, voll ehrlicher Begeisterung über die fettig glänzenden Lippen geflutscht. Die Wolfskopf-Mutter hat das blutige Geschehen für den später aufgestandenen Sohn quasi paniert. So, wie man einem rohen Schnitzel eine Umhüllung aus Eigelb und zu Bröseln zermahlenen alten Semmeln gibt, wurde der Kampf zuerst in Entsetzen, dann in Verurteilung gewendet.
    Geholfen hat dies nichts. Jetzt macht ihr Sprössling die Geschichte wieder so fleischig nackt, wie es sich für sein Knabenempfinden gehört, und findet, dass der Vater der Zwillinge und des Älteren Bruders ein Held ist. Schon demnächst will er Ähnliches vollbringen, er prophezeit, er werde in Bälde selber einen der Huhlenhäusler, natürlich erst mal einen kleineren, mit einem einzigen Hieb zu Boden strecken. Er macht den Schlag – es ist ein wilder Schwinger – immer wieder vor und hüpft dabei herum, als wäre das Flachdach des Schrebergartenhäuschens ein Boxring, aus dem kein Gegner entkommen kann. Die anderen ziehen lachend die Köpfe ein, und Sybille, die bemerkt, wie taumelig die Schritte des einsam kreisenden Zukunftskämpfers bereits geworden sind, warnt ihn davor, mit einem der nächsten Lufthiebe über den Rand hinabzustürzen.
    Missmutig, den Kopf verkrampft im Nacken, muss unser großer Bruder mitansehen, wie sich die anderen in der Höhe amüsieren. Vorhin, als sie ihn in seiner Karre den Rosenhang zur Kolonie hinunterschoben, haben der Schniefer und der Wolfskopf noch gebettelt, er möge ihnen möglichst gleich die Geschichte aus dem Nudelbuch

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