Roman unserer Kindheit
Dastehen zieht es an. Es naht viel lauter und viel schneller, als unsere Freunde so ein Näherkommen bei Tag oder bei Nacht zustande brächten. Es surrt und scheppert. Das Surren übertrumpft das Scheppern. Das Surren siegt. Es surrt, als wäre das ganze Fahrzeug ein einziger Dynamo, eine übergroße Lichtmaschine. Ein weißer Riesenfinger sticht nach ihren Augen, stößt über sie hinweg, alle ziehen den Kopf ein, als könnte der Rote Peter samt seinem Reiter, dem Strahl der ungeheuren Lampe folgend, sie und die Kette, die ihre Suche aufgehalten hat, wie ein startendes Flugzeug überfliegen.
Schon ist es wieder finster. Ganz kurz nur hat es in den verbotenen Weg hineingeleuchtet. Aber es hat gereicht. Der Weißling rappelt sich wieder hoch. Beim Bremsen, beim Schleudern, beim Zum-Stillstand-Kommen hat es ihn vom Rad geschmissen. Der Rote Peter hat sich gedreht und ist mit dem Pedal am Kinderwagen entlanggeschrammt, dass dessen Radkappen krachten. Achim! Der Weißling heißt Achim, plötzlich ist es dem Älteren Bruder wieder eingefallen. Der Kikki-Mann hat es ihnen schon vor einer Ewigkeit verraten, als er erzählte, einer der Huhlenhäusler helfe ihm regelmäßig, die Gitter der Vogelkäfige abzuschrubben und ihre Blechböden mit frischem, reinem Sand zu füllen. Aber der Name kann sich nicht an einer Stelle in ihren Köpfen halten, von der er bei Bedarf auf ihre Zungen fände. Sie glauben nicht an dieses Achim, genauso wenig, wie sie glauben wollen, dass ein Huhlenhäusler irgendeinem hilft.
«Arschgeigen!», hören die Freunde Achim brüllen. «Arschgeigen! Ihr seid blinde Arschgeigen!», schreit er sie an, während er sein schweres Fahrrad aufhebt, es wendet und hinkend wegschiebt. «Das werdet ihr noch büßen! Das werdetihr büßen müssen, dass ihr arschblind und arschlochblöd seid!» Weil er mit allen Kindern aus den vorderen Blöcken auf dem Kriegsfuß lebt, muss er sie so beschimpfen. Aber er tut den Freunden Unrecht. Ohne Mühe könnte er bemerken, wie blank geputzt ihre Augen inzwischen glänzen. Alle haben im Licht der mächtigen Fahrradlampe das Nötige gesehen. Noch während der vom Rad gestürzte Huhlenhäusler wie benommen auf seinem Hosenboden saß, ist Sybille unter die Kette getaucht und hinüber auf die schreckkurz erhellt gewesene Seite geschlüpft. Jetzt kehrt sie aus der Finsternis zurück. Von dort, wo das Gebüsch, alle vermochten es sekundenknapp zu sehen, einen niedrigen Tunnel bildet. Der Wolfskopf fasst sich ein Herz und stemmt die Kette hoch. Sybille duckt sich, zerrt ihre kleine Schwester einfach hinterher, als wäre es egal, ob und wie fest die wieder Eingefangene nun mit der Stirn gegen die rostigen Glieder knallt. Die Freunde verstehen dies nur allzu gut. Der Schniefer schnappt sich die freie Hand der Göre. Dann wenden der Wolfskopf und der Ami-Michi den Wagen dorthin, wo das Kirchenlichtrot des Rückstrahlers durch das Anthrazit der Nacht davonschwappt.
Die Karre knirscht heimwärts. Auf Höhe des Schrebergartentores sind sie heilfroh, dass der Betrunkene, den sie vorhin unten herumschreien hörten, nun, laut mit sich selber schimpfend, den Weg heraufkommt. Falls etwas hinter ihnen her ist, soll es sich bitte, bitte diesen blöden Erwachsenen als Beute unter die langen nachtgrauen Nägel reißen. Schon ist die erste große Wiese und damit der Spielplatz erreicht. Aber dessen Bäumen und Büschen, seinen Zeitungsfetzen und aufgespießten Schlüpfern können sie jetzt nicht trauen und biegen daher in den Elsternhorst. Sie wollen lieber den Umweg,vorbei an den dunklen Zapfsäulen der Tankstelle, an der Glasfront des Kinos, am Turm der großen und am Türmchen der kleinen Kirche und dann den Kreuztöterweg hinunter auf sich nehmen, auch wenn dies genau die Minuten kosten sollte, in denen ihre Eltern vollends sauer werden.
Im Hof warten die Zwillinge. Pro forma, damit ihr Warten niemandem auffällt, kicken sie den Ball des Ami-Michi zwischen den Wäschestangen hin und her. Ganz stumm geht dieses vorgetäuschte Spiel vonstatten. Sie brauchen einander nicht zu sagen, dass etwas Besonderes vorgefallen sein muss, während sie kurz in der Wohnung waren. Wie stets haben sie im selben Moment aufs Klo gemusst, wie tausendmal zuvor sind sie, Sandale an Sandale, vor der Kloschüssel gestanden, aber dann hat es sie tief erstaunt, wie lang es diesmal dauerte, wie immer noch ein neuer letzter, ein neuer allerletzter Spritzer ins weiße Becken zischte, obwohl sie sich längst leer gepinkelt
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