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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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Oberhausen ein Geschäft für Bastel-, Zeichen- und Bürobedarf. Sie waren dann sogar zusammen hingefahren, gemeinsam betraten sie den Laden, und Sputnik zog ihr Herrchen als Ersten an die Theke. Als der Ladenbesitzer durch einen Vorhang aus hübsch kunterbunten Plastikstreifen in den Verkaufsraum kam, genossen die beiden Invaliden seine Irritation, die Jähheit, mit der das Blindsein fast alle anderen Gebrechen in den Schatten stellt. Das Angebot war dann weit größer als erwartet, sogar für das benötigte Gelb standen drei Töne zur Auswahl. Weil unser Mann ohne Gesicht das richtige Kanariengelb einfach nicht herausfinden konnte, nahm der Fehlharmoniker die dunkle Brille ab, rangierte zur Verblüffung des Einzelhändlers nacheinander jeden Karton vor seinen schräg geneigten Kopf, schwankte nur kurz und traf für seinen alten und neuen, fürseinen in heiklen Fragen schon früher ein bisschen zögerlich gewesenen Kumpan die Entscheidung.
    Die Kinder haben nach und nach fast den ganzen Spielplatz mit ihren Rufen ausgemessen. Wenn etwas Helles im Gebüsch aufschien, brachen sie durch das nächtlich laut raschelnde Laub, machten tote Zweige knacken und fanden nichts weiter als einen Fetzen Zeitung oder einen ausgeblichenen Lumpen und eben vorhin eine kleine Unterhose, verdächtig hoch auf einen Ast gespießt. Sybille hat sich das Wäschestück, obwohl es ihr vor seinem ominösen Weiß bereits aus sicherem Abstand grauste, ganz genau angesehen und festgestellt, dass es zwar ein Mädchenschlüpfer, aber nicht der ihrer Schwester war. Auf Höhe des Elsternhorsts bleiben sie stehen, schauen zum Kino hinüber, dessen Leuchtschrift brennt, beschließen, auch noch das völlig finstere Stück oberhalb der Schrebergärten abzusuchen. Alle sind froh über den Heidenkrach, den der Wagen des Älteren Bruders auf dem groben Kies macht, und schieben noch ein wenig schneller, weil es ihnen nun gar nicht geräuschvoll genug vorangehen kann. Das Eingangstor der Kolonie steht offen. Von unten, von der Gartenwirtschaft, schallt dünn das Grölen eines Betrunkenen herauf. Die Karre stoppt. Der Wolfskopf und der Ami-Michi gucken Sybille an, die überlegt, rümpft ihre Nase, als ob sie ihre kleine Schwester riechen könnte, schnuppert kurz Richtung Schrebergartentor, weist dann geradeaus ins Finstere.
    Eigentlich wäre dahinten Schluss. Selbst bei Tag ist es dort mit dem Weiterfahren vorbei. Seit sie zusammen losziehen, kennen sie die Grenze, die dort ihrem Vorstoßen Richtung Norden gesetzt ist. Hinter ihr wartet zwar noch ein weiteres Stück der Welt, sie wissen sogar seinen Namen, aber als Kindgeht man besser nicht hin. Erstens ist es verboten wegen irgendeiner tödlichen Einsturzgefahr. Zweitens steht auf dem Schild, das mit Draht an der dickgliedrigen Kette befestigt ist, in nur fünf Wörtern bündig ausgedrückt, dass Eltern ins Gefängnis kommen, falls ihre Kinder sich dort hinten herumtreiben sollten. Bis an Kette und Schild sind sie gelegentlich gelangt. An speziellen Tagen, wenn ihre Fahrräder so eigensinnig rollten, als steckten in ihren Lampen Gehirne aus Draht und Glas, sind die Freunde an den Schrebergärten vorbeigesaust und haben erst vor der Kette scharf mit dem Rücktritt gebremst, damit die Räder sich im aufspritzenden Kies quer zur Barriere stellten. Der Ältere Bruder ist sich plötzlich todsicher, dass immer Mittag war und immer greller Sommer herrschte, wenn sie stumm an der Kette standen. Nie haben sie sich an einem trüben Tag oder gar in der Dämmerung hierhergetraut.
    Endgültig ist es elend dunkel. So dicht greifen die Büsche über ihren Köpfen ineinander, dass sie die Kette erst sehen, als die Zwillingskarre, die sie wie den Bug eines weißen Kahns ins Finstere geschoben haben, fast dagegenstupst. Und dann begreifen sie: Das Schild ist nicht mehr da. Dem Ami-Michi kommt es, vielleicht weil seine Angst die hellste ist, laut über die Lippen: «Das Schild ist weg!» Unser großer Bruder will etwas dazu sagen. Ganz gegen sein Gefühl will er behaupten, dass das Schild nun überhaupt nicht wichtig sei, weil sie es bestimmt schon volle zehn Mal in bestem Sonnenlicht gelesen hätten. Aber er kriegt es nicht heraus, und so verfilzt die schlimme Finsternis mit einer schlimmen Stille. Alle verstehen: Die Nacht ist vollends bös geworden. Sybille, der Wolfskopf, der Schniefer und der Ami-Michi rücken mit winzigen Seitenschrittchen näher an die Karre, umdiese Einsicht auszuhalten. Da kommt es näher. Ihr bloßes

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