Roman unserer Kindheit
ersten Schocks, die sich jede Sekunde lösen konnte.
Aber das erwartete Geheule, der gleichzeitige Fluss von Tränen und Rotz, das puterrote Aufglühen der Backen, das Anschwellen der Lider, das Kreischen und Um-sich-Schlagen, alles, wofür Sybilles Schwester bei den Kindern im Hof berüchtigt war, blieb aus. Ganz brav, nur etwas träge, machte sie sich in der Badewanne daran, die staubigen Waden mit dem Waschlappen abzureiben. Sybille staunte, dass ihre Mutter nicht einmal fragte, woher das schwarze, teerartig klebrige Zeug auf den Fersen und den Zehenballen stammte. Und fast noch mehr wunderte sie sich darüber, wie klaglos ihr Schwesterchen sich dann mit der groben Bürste die Sohlen schrubben ließ, obwohl das schrecklich kitzeln musste. Beim Zähneputzen nahm die Kleine viel zu viel Zahncreme, machte ewig weiter mit dem Auf und Ab, so lange, bis der Schaum über die Unterlippe quoll, in dicken Tropfen vom Kinn ins Waschbecken platschte und Sybille ihr die Zahnbürste aus der Hand drehen und den Mund abwischen musste. Im Bett klappten ihr, kaum war der nasse Kopf ins Kissen gesunken, die Lider so ruckartig zu, als wäre sie eine der guten, teuren Puppen, eine jener echten Schlafpuppen, die bewegliche Halbschalen als Augendeckel und extralange, extradichte Nylonwimpern haben.
So ging es bei den Böhms am ersten vaterlosen Abend zu.Aber das kuriose Gestern kümmert wenig, wenn das Heute drängt. Spätestens seit dem Finale ihrer Mädchenzeit, als sie sich, kurz bevor die ersten russischen Panzerspitzen in ihr Heimatstädtchen rollten, zur Flucht in den Wald entschlossen hatte und kaltblütig den schwarzen Gymnastikball, vier Gläser Kunsthonig, ihr Kulturtäschchen und rundum frische Unterwäsche in ihren Wanderrucksack stopfte, denkt Annabett Böhm, sie wisse, wie man vor dem Horizont großer wie kleiner Katastrophen das Praktisch-Naheliegende ins Auge fasst. Da ihre Nachbarin heute zum üblichen Verbandswechsel mit dem Taxi ins Josephinium muss, ist es nur logisch, einfach mit hin- und zurückzufahren. Der Sitz neben dem Chauffeur ist schließlich frei. Dem frisch operierten Gatten wird es schon recht sein, und Sybille ist vernünftig genug, um auf ihre Schwester und auf die beiden kleinen Nachbarsjungen aufzupassen. So kommt es, dass die Beine der Zwillinge über die Eckbank der Böhm’schen Küche baumeln, als draußen der rechte Zeigefinger und der rechte Mittelfinger des Taxifahrers den Vorglüh- und Startknopf des Diesels nach oben ziehen.
Die beiden haben ihr neues Buch, das Album mit den Einklebebildern, mit herübergebracht und bitten Sybille, ihnen daraus vorzulesen. Zweimal habe der Ältere Bruder dies bereits getan, aber die Geschichte sei derart spannend, dass sie alles bis in die letzte Wendung, zusammen mit Sybilles kleiner Schwester, unbedingt noch einmal hören müssten. Die Kleine sagt hierzu nichts, scheint auch nicht hinzuhören. Die ganze Zeit guckt sie schon einer fetten Wespe nach. Auch Sybille ist das ungewöhnlich große Insekt längst aufgefallen, zuerst ist es im Bad – ping! ping! – gegen die Milchglasscheibe geknallt, dann muss es ihr, als sie hinausging, nachgeflogen sein. Jetztsurrt das Tier mit einem tieferen, ruhiger gewordenen Ton um die Saftgläser, die Sybille, wie von ihrer Mutter aufgetragen, mit verdünntem Holundersirup vollgegossen hat. Die Zwillinge sehen, sie ist, was das Buch angeht, noch unentschieden. Und weil sie spüren, wie verkehrt es wäre zu drängeln, warten sie, still und Geduld vortäuschend, einfach ab.
Sybille hasst es vorzulesen. Ein einziges Mal nur hat ihre heißgeliebte Lehrerin zu ihr gesagt, sie würde schrecklich leiern. Das hat genügt, um Sybille die Freude an diesem Tun für immer und ewig zu verderben. Eigentlich hat sie nicht die geringste Ahnung, was mit Leiern gemeint sein könnte. Aber es bedeutet ohne Zweifel, dass sie das laute Lesen nicht so schön hinkriegt wie der Ältere Bruder. Dem hängen alle an den Lippen, wenn er mit heller Stimme aus einem der im Hof kursierenden Comic-Heftchen vorträgt, aus irgendeinem umschlaglosen, halbzerrissenen Stück, das jeder längst in- und auswendig zu kennen meint. Sybille wird erst kommenden Winter, am Abend des ersten Advents, mit einem schreckhaften Schlag begreifen, dass unser großer Bruder ihr und den anderen stets viel mehr zu Ohren bringt, als auf den Seiten aufgeschrieben steht. Der Wolfskopf, der Schniefer und der Ami-Michi werden dagegen niemals ermessen, wie himmelweit das aus
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