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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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fühlten. Als sie wieder nach draußen kamen, fiel ihnen gleich als Erstes auf, dass bei den Böhms alle Fenster weiterhin finster waren. Und inzwischen sind sie sicher, die Dunkelheit von Küche, Bad und Kinderzimmer muss mit dem Verschwinden der anderen zusammenhängen.
    Sie haben recht. Denn kaum dass die Karre mit dem Älteren Bruder ums Eck geschoben wird, geht in der Böhm’schen Küche das Licht an. Zum ersten Mal sehen die Zwillinge den Kinderwagen, in dem sie selbst gelegen haben, in dem sie nach angemessener Liegezeit, aufrecht gehalten von einem Doppelgeschirr aus Leder, Schülterchen an Schülterchen gesessen sind, bei Nacht. Erst jetzt scheint sein Geflecht aus geschälten und gelackten Weidentrieben vollends weiß, exakt so weiß wie die kleinen Knochen, die sie regelmäßig im Gestrüpp entdecken und die sie in diesem Sommer nacheinigem Zögern und Überlegen zu sammeln begonnen haben. Die Mutter war davon alles andere als begeistert, weil sie bereits besondere Steine, Vogelfedern, glänzende Gaswerkschlacke, Baumharz, Bierdeckel und Flaschenkorken zusammentrugen. Aber dann hat sie ihnen doch eine schöne Dose aus Blech zum Aufbewahren der ausgeblichenen Vogel-, Hasen- und Rattenbeinchen überlassen.
    Weißer als weiß ist auch der Karton, auf den der Mann ohne Gesicht mit scharf gespitztem Bleistift das vierflügelige Ausklappbild des letzten Quaders zeichnet. Schon der kanariengelbe stimmte in allen rechten Winkeln. Und die folgenden drei, der erbsengrüne, der rosarote und der türkise, sind ihm nacheinander stets noch ein klein wenig besser gelungen. Inzwischen macht es höllisch Spaß. Der fünfte Block erweist sich gar als makellos; perfekt passen die Unterkanten in die Rillen, die seinen Standort auf dem Tischplan markieren. Es ist, als wären Fundament und Überbau von einem superpingeligen Bauherrn aufeinander abgestimmt. Das sitzt wie aufgegossen. Und als der glückliche Bastler, der Hobbykünstler ohne Antlitz, den weißen Quader noch einmal hochheben will, bemerkt er: Holz und Pappe wollen nicht mehr voneinander lassen. Das Hohlsein des weißen Häuschens, das Hohlsein des Modells, hat sich, eigener Logik folgend, festgesaugt.
    Annabett Böhm tritt vor den dritten Eingang, gerade als die Zwillinge den zurückgekehrten Großen mit Fragen auf die Pelle rücken wollen. Mit einem einzigen Satz ruft sie ihre Töchter zu sich und spürt dabei, dass ihre Kraft eben noch für diesen einen barschen Zuruf reicht. Sie dreht sich um, ohne bemerkt zu haben, was auch dem Älteren Bruder, dem Ami-Michi, dem Wolfskopf, dem Schniefer und sogar Sybillebis jetzt entgangen ist. Den ganzen mühselig langen Kreuztöterweg herauf haben die Freunde das Tappen auf dem Asphalt vernommen und dennoch nicht richtig hingehört. Die Zwillinge hingegen haben es sofort gesehen und wollen nun danach fragen. Zu spät. Sybille, die sich zum ersten Mal in ihrem Leben beim lieben Gott dafür bedankt, dass etwas glimpflich ausgegangen ist, und bloß noch Angst hat, der Vater könnte eben jetzt vom Fußballtraining kommen, zieht ihre Schwester Richtung Aufgang. Die anderen gucken hinterher. Die Birne in der milchig weißen Kugel über der Hausnummer ist schwach, aber ihr Schimmer reicht aus, um nun auch in ihren erschöpften Köpfen die unausgesprochene Frage der Witzigen Zwillinge aufscheinen zu lassen. Tipptapp, tipptapp! Wo sind bloß die Sandalen und die Söckchen abgeblieben? Sybilles kleine Schwester kommt auf nackten Füßen nach Haus getapst, und keiner der Freunde hat es auf dem Weg vorbei an Kino, Polizei und Kirche bemerken wollen.

Sonnentag
    Der Morgen danach ist süß. Der Ältere Bruder ist aufgewacht, ohne seinen Fuß zu spüren. Ganz spät erst, erst als er die Arme zur Decke streckt und sich seufzend räkelt, bemerkt er das besondere Gewicht des rechten Beins. Sonst nichts. Zum ersten Mal bleibt es beim Gefühl der Schwere, kein Puckern und kein Jucken. Blut, Haut und Fleisch lassen ihn in Frieden wie an keinem Morgen seit dem Unfall. Dann fällt ihm ein, dass heute die Schiene abgenommen werden soll. «Das nächste Mal wirst du von deinem Teilkorsett erlöst!», hat Professor Felsenbrecher ihm versprochen, während die kleine dicke Schwester sich daranmachte, den erneut penibel untersuchten und gesalbten Fuß frisch einzuwickeln. «Was guckst du so belämmert, Freundchen? Freu dich lieber!»
    Den Irrenwitz, der darauf folgte, den der Professor nicht für sich behalten wollte, weil er angeblich perfekt zu

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